Im Buch „Wie wir morgen leben – Denkanstösse für das Zeitalter der Langlebigkeit“ werden neue Lebensmodelle fern der AHV-Reform beschrieben. Wie sieht das Lebensmodell von morgen aus?

Wir stellen in unserem Buch bewusst ganz unterschiedliche Szenarien vor, wie unser Leben in Zukunft aussehen könnte – und stellen keine Prognosen an, was wahrscheinlicher ist. Ziel ist es, den Lesern die verschiedenen Möglichkeiten aufzuzeigen, wie ein Leben in der Zukunft aussehen könnte. Jeder muss aber für sich selbst entscheiden, was für ihn wünschenswert ist, wo Chancen und wo Risiken liegen. Ziel ist es, die Auseinandersetzung mit der Welt von morgen zu fördern, nicht eine vorbestimmte Zukunft zu zeigen.

Unser Leben wird durch unterschiedliche Lebensmodelle geprägt sein, denn durch die längere Lebenszeit entsteht mehr Freiraum und Flexibilität für gesamte Lebensgestaltung – nicht nur für das Alter, sondern für das gesamte Leben: Der Zeitpunkt für eine Elternschaft kann – dank Fortschritten in der Medizin wie «social freezing» - künftig flexibel gewählt werden, das Einbinden von intelligenten Maschinen in unseren Alltag ermöglicht neue Freiheiten. Gleichzeitig wird aber auch lebenslanges Lernen zum Standard. Somit werden sich die Lebensmodelle der Zukunft durch ihre Vielfalt und Individualität auszeichnen.

Allerdings sind wir noch nicht an diesem Punkt angekommen, denn trotz diesen neuen Möglichkeiten unterscheidet sich das heute dominante Lebensmodell meist noch nicht von dem unserer Grosseltern: Auf Bildung folgen Karriere, Familie und Pension. Während der letzte Lebensabschnitt trotz längerer Gesundheit wenig aktiv bleibt, stauen sich in den mittleren Lebensjahren zusätzliche Tätigkeiten infolge veränderter Rollen in der Familie, der Karriere und einem steigenden Anspruch an die Selbstverwirklichung ausserhalb des Berufs.

Deshalb gilt es heute umso mehr, das Leben von morgen neu zu denken, um das Potenzial des längeren Lebens besser zu verteilen und zu nutzen.

Der SD21 ist davon überzeugt, dass es konkrete Vorschläge für die immer älter werdende Gesellschaft braucht. Das Buch ist im April 2017 erschienen und zeigt unterschiedliche Szenarien auf. In der aktuellen Debatte zur Altersvorsorge 2020 hört man aber nichts davon. Warum ist das so?

Das Ziel unseres Think Tanks ist es zunächst, den Dialog über das «Big Picture» und neue Lebensmodelle im Zeitalter der Langlebigkeit zu liefern, zentrale Handlungsfelder für Wirtschaft und Gesellschaft abzuleiten und erste Massnahmen zur Übersetzung in die Praxis zu präsentieren. Das Buch soll dabei Denkanstösse für die Wirtschaft und die Politik liefern um bei den Debatten über 2020 – also faktisch die Gegenwart - das Bewusstsein einbringen, dass es neben der Frage des Pensionierungszeitpunkts um weitere, grundlegende Fragen geht, denen wir uns stellen müssen. Das Ziel ist es, das langfristige Denken und Handeln zu fördern und frühzeitig für die wichtigen Entwicklungen zu sensibilisieren. Über diesen Weg werden dann auch die Diskussionen der Gegenwart in einem anderen Licht dargestellt. Damit die neuen Möglichkeiten der Lebensplanung in die Praxis übersetzt werden können, braucht es eine Anpassung der Rahmenbedingungen – von Arbeitsmodellen und Vorsorge über Wohnstrukturen und Bildungsangebote bis hin zur Freizeitgestaltung. In der aktuellen Debatte werden diesen Aspekten unserer Meinung nach noch zu wenig Rechnung getragen.

Am 24. September stimmt das Volk über die Altersvorsorge 2020 ab. Die Reform soll Renten sichern und die Altersvorsorge an die gesellschaftliche Entwicklung anpassen. Was halten Sie davon?

Unserer Meinung nach muss die gesamte DNA der Vorsorge neu definiert werden. Im Kern werden wir als Folge der steigenden Lebenserwartung nicht darum herumkommen, entweder länger zu arbeiten oder die Vorsorgebeiträge zu erhöhen, resp. noch früher damit zu beginnen. Wir werden Langstreckenläufer und müssen entsprechend langfristig, aber auch gesamtheitlich planen. Eine bedeutende Rolle spielt dabei die Verschiebung des Fokus weg von der letzten Lebensphase hin auf das gesamte Leben: vom frühzeitigen, lebenslangen Sparen bis zum Einbezahlen informeller Leistungen. In der Folge würde neben den herkömmlichen Modellen ein Ökosystem der Vorsorge entstehen, das sich durch eine Vielfalt neuer Produkte und durch eine Beschäftigung mit der gesamten Lebensplanung auszeichnet. Die Flexibilisierung ist dabei eine wichtige Dimension. Wir haben schon heute viele Berufstätige, die gerne auch über das Pensionierungsalter hinaus arbeiten möchten, vielleicht mit einem reduzierten Pensum, dies muss in Zukunft möglich sein. Umgekehrt muss aber auch gewährleistet sein, dass Menschen, die dies nicht können oder wollen, ein Anrecht auf eine Pensionierung haben. So oder so kommt dem Einzelnen in Zukunft mehr Verantwortung zu. Dies beginnt damit, frühzeitig - nicht erst ab dem 50. Lebensjahr - eine Lebensplanung vorzunehmen, genauso wie man das bei der Karriere oder der Familienplanung ja auch tut. Neben einer obligatorischen Grundregelung brauchen wir aber weitere Möglichkeiten, dies zu tun. Ob man in Zeitbanken investiert, eine Pflegeversicherung abschliesst oder einfach ab dem 25. Lebensjahr jeden Monat zusätzlich etwas auf die Seite legt, ist Sache persönlicher Entscheidung. Gerade Zeitbanken wären eine Möglichkeit losgelöst vom Einkommen, Unterstützungsleistungen einzuzahlen, die man später auch wieder beziehen kann. Dabei wird zusätzlich die Gemeinschaft und die Sinnstiftung in der Konsumwelt gestärkt. Die Voraussetzung ist aber, dass auch Arbeitsmodelle und Bildungsangebote der steigenden Lebenserwartung angepasst werden, indem z.B. ältere Arbeitnehmer in den Arbeitsprozess integriert werden, unter anderem durch die Flexibilisierung der Pension und eine altersunabhängige Lohnpolitik. Arbeitsmodelle sollten sich den veränderten Rahmenbedingungen anpassen, indem neuen Modelle getestet werden, in denen zum Beispiel Arbeitnehmer mit einer hohen Belastung über längere Zeit mit tiefem Arbeitspensum bei späterer Pensionierung arbeiten oder eine Incentivierung durch Meilenstein-Auszeichnungen, die das Arbeiten im Alter mit Anerkennung oder finanziellen Anreizen fördern.

Jetzt nochmals konkret: Welche Modelle schlagen Sie im Bereich Sparen & Vorsorge vor? Wie realistisch sind diese? Und was sind die Vor- und Nachteile?

Wir plädieren für die Förderung ergänzender «Vorsorgemodelle» wie Zeitbanken, bei denen nicht Geld, sondern Arbeit «einbezahlt» und später bezogen werden kann. Parallel dazu gilt es, informelle Leistungen durch Entlöhnung oder Steuerabzüge zu honorieren oder den Wiederaufbau von Milizsystemen durch die Unterstützung von Arbeitgebern zu fördern – indem Aufgaben für die Gesellschaft mit dem Beruf vereinbart werden. Und wir müssen den Planungshorizont erweitern, indem Anreize zum frühzeitigen, lebenslangen Sparen fördern, z.B. durch Steuervergünstigungen für Eltern, die Sparguthaben auf Sperrkonten für ihre Kinder einzahlen sowie durch den Kompetenzaufbau im schonenden Umgang mit natürlichen und finanziellen Ressourcen in Schulen. Hier gibt es auch spannende neue Möglichkeiten durch digitale Tools, die beispielsweise helfen, Geld mit kleinen Beträgen im Alltag automatisiert auf die Seite zu legen. Und es braucht schliesslich neue Versicherungsprodukte für das Zeitalter des langen Lebens, indem existierende Lösungen wie Pflegeversicherungen in die breite Bevölkerung getragen, neue Produkte wie Finanzierungsmodelle für Sabbaticals oder angepasste Lebensversicherungen gefördert werden, die nicht nur das Risiko eines verfrühten Todes für die Angehörigen mildern, sondern auch für ein sehr langes Leben vorsorgen.

Wie bringen Sie Ihre Konzepte in die Politik?

Indem wir einerseits den Austausch mit Entscheidungsträgern pflegen und an Veranstaltungen oder Workshops dazu beitragen, das Thema der steigenden Lebenserwartung in einen langfristigeren Kontext zu bringen und andererseits, den beiteren Dialog über die Lebensmodelle von Morgen heute anstossen und an die Eigenverantwortung eines jeden Einzelnen appellieren, sich mit den neuen Möglichkeiten der Lebensgestaltung auseinanderzusetzen. Nur wer heute Eigenverantwortung übernimmt, bestimmt selber und nutzt den individuellen Gestaltungsraum. Damit wir morgen nicht nur länger, sondern auch gut leben.

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Interview mit Dr. Stephan Sigrist, Gründer und Leiter Think Tank W.I.R.E. und Co-Autor des Buchs „Wie wir morgen leben - Denkanstösse für das Zeitalter der Langlebigkeit“

Informationen zum Buch: In einem zweijährigen Forschungsprojekt hat sich der Think Tank W.I.R.E. mit den Folgen der steigenden Lebenserwartung und den daraus entstehenden Möglichkeiten für die Lebensgestaltung beschäftigt. Ein Resultat dieser Arbeit ist das soeben erschienene Buch «Wie wir morgen leben», das in 44 Szenarien präsentiert, wie wir unser Leben in Zukunft auch planen könnten. Die Publikation dient als Entscheidungsgrundlage und Inspiration für die Bestimmung einer wünschbaren Zukunft. Gemeinsam mit Swiss Life wurden die Lebensmodelle einem ersten Realitäts-Check bei der Schweizer Bevölkerung unterzogen, aus dem weiterführende Handlungsfelder für Gesellschaft, Unternehmen und Politik abgeleitet wurden.

«WIE WIR MORGEN LEBEN – Denkanstösse für das Zeitalter der Langlebigkeit»
Hrsg. von W.I.R.E., dem Think Tank für Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft, in Kooperation mit Swiss Life. Autoren: Stephan Sigrist und Simone Achermann

NZZ Libro Verlag

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