Am Anfang unseres Buches stand ein anderes Buch. Vor über 30 Jahren veröffentlichte der Schweizer Inlandjournalist Hans Tschäni ein Buch mit dem Titel „Wer regiert die Schweiz? Der Einfluss von Lobby und Verbänden“. Das Buch deckte 1983 auf, wie eng Politik und Wirtschaft in der Schweiz verflochten sind, Tschäni schrieb von einer „Filzokratie“, in der Volk und Parlament als ahnungslose Gehilfen grauer Strippenzieher fungieren. Angesichts der Machtballung bei Regierung, Verwaltung und einigen Interessengruppen fürchtete Tschäni, die Schweiz werde zu einer Art Ständestaat, in dem ein bestimmtes Milieu seine Regeln insgeheim durchsetzt: «Unsere Verständigungsdemokratie degeneriert langsam zur Elitedemokratie eines beschränkten Interessenkreises.» Das Volk, zunehmend ernüchtert, wurde in diesem Szenario zur passiven Masse.

Wir fragten uns: Stimmt das heute noch? Unsere Antwort ist ein eindeutiges Nein. Der alte Filz ist zerrieben, der Zeitgeist ein anderer. Eine Macht, die schon immer da war, ist heute mächtiger denn je: das Volk, also wir alle. Wer etwas will, kann erstaunlich viel erreichen. Ja, wir leben heute in einem Staat, in dem Politamateure fast im Alleingang die Verfassung ändern können – und zwar so, dass sich die Chefs von Milliardenkonzernen darüber ärgern. Themenzentrierte Gruppen und Einzelkämpfer steuern kräftig mit, ob NGOs und Rohstoffriesen, ob Franz Weber, Thomas Minder oder die Juso. Sie alle haben sich extrem professionalisiert, das Internet, insbesondere die sozialen Medien haben ihnen neue, wirksame Hilfsmittel zur Verfügung gestellt. Und sie werden unterstützt von PR-Agenturen, in denen sich viele brillante, gut vernetzte Köpfe versammelt haben. So sind Initiative und Referendum zu effizient genutzten Waffen im politischen Gefecht geworden. Dass «die in Bern oben» machen, was sie wollen, würde 2014 keiner mehr behaupten, der noch ganz bei Trost ist – die Populisten tun es trotzdem.

Ja, es ist unübersichtlich geworden in der Schweiz, es sind sehr viele Kräfte, die mitmischen, mehr denn je – und jeder von ihnen verfolgt seine eigenen Interessen, Interessen, die immer öfter nicht im Sinne des Gemeinwohl sind. Schaut man dieses fast schon anarchisch anmutende Machtgefüge genauer an, kommt man zum Schluss: Die Schweiz war seit dem Zweiten Weltkrieg nie mehr so unregierbar wie heute.

Diese Unregierbarkeit hat Folgen: Die einstmals Mächtigen zittern vor den Unwägbarkeiten der direkten Demokratie. Wirtschaft, Verbände und Politik – also diejenigen, die Tschäni «Filz» nannte – sind so verunsichert wie selten.

Das Volk ist zur eindrücklichen Drohkulisse geworden. In den letzten Jahren spielte dies reichen SVP-Kreisen in die Hand: In der Ära Blocher können sie es eben auch riskieren, mal eine Abstimmungskampagne mit zweifelhaften Chancen vom Zaun zu brechen. Aber auch die linke Seite setzte den Appell an den Souverän geschickt ein, um sozialstaatliche Abbauversuche zu stoppen.

Deshalb wird sich eine grosse Debatte der nächsten Jahre um die Grenzen der direkten Demokratie drehen. Wer hat recht? Wer hat welches Recht? Die Schweiz wird sich wieder der Gewaltentrennung erinnern müssen, der «checks and balances». Denn natürlich kann auch der Stimmbürger falschliegen – so wie jeder Souverän, jeder Herrscher, jeder Monarch, der glaubt, in Vollkommenheit zu entscheiden. Es gibt Situationen, in denen das Volk nichts zu sagen haben kann und wo andere Instanzen die Verantwortung übernehmen müssen: weil die Zeit drängt; weil Geheimnisse taktisch gewahrt werden müssen; weil sich die Stimmbürger sowieso gern selber widersprechen; weil es Grund- und Menschenrechte gibt, über die nicht abgestimmt werden kann.

Durch die eifrigere Bewirtschaftung der Volksrechte stellt sich die Frage, welche Rolle die anderen Schweizer Regierenden noch spielen sollen. Vor allem diejenigen, die man manchmal Eliten nennt. Denn offen ist auch, wie sehr die Störkraft des Einzelnen und der kleinen Gruppe die Tatkraft schwächt, die aus der Gemeinschaft entsteht. Dies dürfte eine zweite Kernfrage der nächsten Jahre werden. Könnte sich die Schweiz der Gegenwart noch auf ein Multimilliardenprojekt wie die Neat einigen? Wird sie den dramatischen Umbau der Sozialwerke schaffen, der ab 2020 unausweichlich sein dürfte? Kann die Energiewende, der Ausstieg aus der Atomkraft, in einem Land der fünf Millionen Mächtigen wirklich durchgesetzt werden?

«Wir haben das Privileg, uns gegenseitig verstehen zu müssen», sagte Bundesrat Alain Berset kurz nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative in Leipzig, wo er die Buchmesse eröffnete. Helvetia könnte sich dieses Motto 2014 übers Bett nageln. Gefordert sind alle: der Einzelne und die Parteien, Verbände, Interessengruppen, die bei jedem Kampf auch bedenken müssen, welche Reaktionsmöglichkeiten die Gegenseite hat. Oder wie es der Präsident des Arbeitgeberverbandes, Valentin Vogt, sagt: «Der Weg von der Empörung zum Gesetz ist nirgends so kurz wie in der Schweiz. Wer nicht mitmacht, über den wird bestimmt.»

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