Im 18. und 19. Jahrhundert gehörte die Schweiz zu den innovationsfreudigsten Ländern Europas. Sie war ein wahres Land der Pioniere. Heute scheint es manchmal, als ob jede Erfindung bereits gemacht, jede Nische bereits besetzt und jede Geschäftsidee bereits verwirklicht sei. Gibt es heute überhaupt noch Chancen für kreative Unternehmer? Oder ist die Karriere in einer Grossbank, einer Versicherung oder eine Anstellung beim Staat die einzige berufliche Perspektive für ambitionierte junge Menschen?

Doch, es gibt nach wie vor Platz für die Pioniere von heute: In der Chemie, in der Biotechnologie oder im Nano-Sektor werden aktuell bahnbrechende Erfindungen gemacht. Die modernen Computertechnologien ermöglichen neue Meilensteine in der Materialforschung, im Ingenieurwesen oder im Produktdesign. Doch hier findet die Forschung primär in Grossunternehmen, Universitäten oder ihren Spin-Offs statt. Die Zeit der Tüftler auf Dachböden und in Garagen dürfte weitgehend vorbei sein.

Das grösste Potenzial für Pioniertaten liegt, in einer reifen Volkswirtschaft wie der Schweiz, im Dienstleistungssektor. Hier dürfen weiterhin Innovationen erwartet werden; sei es im Handel, in der Beratung, in den Medien oder im Tourismus. Innovationsgeist im Hochpreisland Schweiz scheint eine besondere Herausforderung zu sein. Doch genau da liegt die Chance: Die Eidgenossenschaft als rohstoffarmer Kleinstaat hat von jeher Bürger mit hohem Handelssinn und einer starken Dienstleistungsmentalität hervorgebracht. Doch diese Werte haben wir durch den Protektionismus der Nachkriegsjahrzehnte fast vergessen und uns stattdessen oftmals am Bestehenden festgeklammert. Dabei gilt: Wer teuer ist, muss besser sein. Besser bedeutet: engagierter, kompetenter, bedürfnisorientierter, nachhaltiger, schneller und flexibler. Und dies nicht nur als Mission Statement, sondern als Leitschnur des täglichen unternehmerischen Handelns. Dafür müssen natürlich auch die politischen Rahmenbedingungen stimmen – sie dürfen unternehmerische Initiative nicht totregulieren.

Das Internet, der grosse Gleichmacher und Schaffer von Markttransparenz, hat in vielen Bereichen die Margen schmelzen lassen. Und doch hat dieser Trend auch seinen Gegentrend. Denn in der vernetzten Welt der unbegrenzten Unverbindlichkeiten steigt das Bedürfnis nach Beratung, nach Nähe, nach Verlässlichkeit. Beispiel Reisen: Wer bucht heute noch einen Flug nach London übers Reisebüro? Fast jeder nutzt dazu das Netz. Doch für die jahrelang geplante Weltreise wäre ein Spezialist hochwillkommen, der hilft, böse Überraschungen zu vermeiden. Ebenso haben das individuelle kleine Familienhotel, der speditive und kompetente Handwerker oder der für seine Qualität bekannte regionale Bäcker Zukunftsperspektiven und können in ihrem jeweiligen Rayon zum „Pionier im Kleinen“ werden.

Bei identischen Produkten und Dienstleistungen will jeder den günstigsten Preis haben. Deshalb gilt es, sich durch Qualität, Kompetenz und persönlichen Einsatz zu differenzieren. Dann tritt der Preis in den Hintergrund. Und der postmoderne Mensch verfügt über eine multiple Persönlichkeit: Heute ist er „Schnäppchenjäger“ beim Discounter, doch morgen schon degustiert und kauft er beim edlen regionalen Weinhändler. Wer hier seine Nische findet und ein innovatives Konzept umsetzt, wird reüssieren.

Die besten Chancen hat derjenige, der die Bedürfnisse seiner Kunden genau kennt und möglichst individuell zu erfüllen versteht. Der regionale Fachhändler erfährt diese im Gespräch an der Ladentheke und setzt sie im besten Fall mit Intuition und Kreativität um. Die Grossverteiler versuchen aktuell mit „Big Data“, Ähnliches zu erreichen. Wir dürfen gespannt sein, wie die neuen Erkenntnisse das Marketing verändern werden – und was das für den Datenschutz bedeuten wird.

Wer sich die Pioniere des 19. Jahrhunderts als Vorbild nimmt, muss sich im Übrigen nicht auf den oftmals gesättigten kleinen Schweizer Markt beschränken: Schweizer Know-how und Innovationsgeist, Schweizer Produkte und Traditionen haben in vielen Ländern der Welt einen hervorragenden Klang – hier gibt es eine fast unbegrenzte Spielwiese für tüchtige Fachleute und Akademiker, sich unternehmerisch zu verwirklichen und auf neuen Märkten Pioniertaten zu vollbringen. Die klassischen Pioniere haben quasi alle im Ausland Erfahrungen gesammelt und sich von den Besten weltweit inspirieren lassen – warum tun wir das eigentlich nicht häufiger?

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