»Westlicher Lebensstil«

Islamistische Terroristen führen auch in diesem Jahr den Krieg gegen den Westen, seine Werte und Lebensstile weiter fort. Den Anschlägen auf die Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo, später auf das beliebte Konzerthaus Bataclan im Herzen von Paris folgte in diesem Jahr der Angriff auf eine Schwulenbar im amerikanischen Orlando und der Anschlag am französischen Nationalfeiertag am 14. Juli in Nizza. In Istanbul griffen Islamisten Jugendliche in einem Musikladen an, weil sie während des Fastenmonats Ramadan die neue CD einer Rockgruppe feierten. Inzwischen ist der islamistische Terror auch in Deutschland angekommen, das lange Zeit hoffte, verschont zu bleiben. Ob die Islamisten in Gestalt von Einzeltätern oder als beauftragte Gruppe des IS agieren, sollte uns nicht dazu verleiten, diese Angriffe zu verharmlosen. Auch die Pathologisierung der Täter ist ein Versuch, den Schrecken zu bannen. Die Bedrohungslage existiert schon viel länger, auch wenn sie aus Angst oder in wohlmeinend-pädagogisierender Weise kleingeredet wurde, um die Bevölkerung zu besänftigen.

In Fortsetzung des letztjährigen Arbeitsschwerpunktes des John Stuart Mill Instituts über die westlichen Werte ging es uns im Freiheitsindex Deutschland 2016 um westliche Lebensstile, die in diesen Werten gründen. Sie sind von unterschiedlichen Seiten unter Beschuss geraten: Von außen werden sie von Islamisten attackiert; auch Moskau führt einen Propagandafeldzug gegen westliche Liberalität und »Dekadenz«, besonders gegen Homosexualität. Zudem bedienen in ganz Europa rechts- und linkspopulistische Bewegungen und Parteien antiwestliche Ressentiments, die unseren Lebensstil in Frage stellen.

Was ist das Besondere dieses Lebensstils? Gerahmt ist er von Demokratie, Rechtsstaat, Gewaltenteilung und sozialer Marktwirtschaft. Neben der Achtung der Menschenrechte, der Trennung von Staat und Kirche bzw. Gesellschaft und Religion zählen die Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Schutz von Minderheiten und die Wertschätzung des Individuums und seiner individuellen Freiheiten gegenüber dem Kollektiv zu diesem Wertekanon. Daraus ergibt sich für den westlichen Lebensstil: freiwillige Bindungen, die nicht auf Zwang beruhen, Gleichberechtigung der Geschlechter, sexuelle Selbstbestimmung, Vielfalt der Lebensstile, Wahlfreiheit, Toleranz, Skepsis gegenüber alten Gewissheiten und das Recht auf Irrtum. Dazu gehören in jedem Fall die diesseitige Lebenslust im Unterschied zu religiöser Jenseitigkeit, Tanzen, Singen, Lachen und Trinken im öffentlichen Raum, kurzum der Hedonismus und die individuelle Suche nach dem Glück. Darf oder soll man gar nach einer massenmörderischen Attacke auf die diesseitige Lebenslust unbeirrt weiter tanzen, lachen und trinken – als offensive Verteidigung unseres westlichen Lebensstils?

Die Diskussionen in den letzten Monaten darüber, ob der Begriff »westliche Werte« zuträglich, nötig oder überflüssig sei, hat gezeigt, dass die westlichen Selbstzweifel im Hinblick auf unsere normativen Grundlagen und die damit verbundenen Lebensstile im Raum stehen. Die Geißelung westlicher Dekadenz und diverse Spielweisen von Zivilisations-, Konsum-, Wachstums- und Kapitalismuskritik im Westen selbst sind nicht neu. Sie tönen von rechter wie von linker Seite, sind oft durchsetzt von Kulturpessimismus und Fortschrittsskepsis und warnen vor Entfremdung. Oft wird darin der Natur das Gute und dem Menschen das verderbt Böse zugeschrieben. Der westliche Lebensstil, hört man zuweilen gar, mache Seele und Körper krank.

Deshalb haben wir neben dem festen Fragenkatalog des Freiheitsindexes diesmal Fragen zum Schwerpunkt »Westlicher Lebensstil« eingearbeitet: 64 Prozent der Befragten gehen von einem besonderen »westlichen Lebensstil« aus. Demokratie, Rechtsstaat und Freiheitsrechte zählen ebenso wie schon bei der Erhebung zu den westlichen Werten im letzten Jahr zu den Kernelementen. An erster Stelle steht bei der Charakterisierung des westlichen Lebensstils die »Gleichberechtigung der Geschlechter«, gefolgt von der »Meinungs-, Presse- und Redefreiheit«, den »Freiheitsrechten allgemein und der Freiheit der individuellen Lebensgestaltung«. Das heißt, neben der Gleichberechtigung wird die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Lebensentwürfe ausdrücklich als Kennzeichen des westlichen Lebensstils gewürdigt.

Über das Ausmaß der Gefährdung dieses Lebensstils ist sich die deutsche Bevölkerung unsicher. Genannt werden vor allem die Zuwanderung, der Islam und Terroranschläge, allesamt Bedrohungen, die von außen kommen. Im Langzeittrend ist in diesem Zusammenhang eine Rückkehr zu klassischen bürgerlichen Tugenden zu beobachten. Als Erziehungsziele werden an erster Stelle »Höflichkeit und gutes Benehmen«, gefolgt von »Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen«, »Ehrlichkeit«, »Aufrichtigkeit« und »Hilfsbereitschaft« genannt. 40 Prozent der Befragten betrachten das Leben in erster Linie als eine Aufgabe; fast gleich viele, nämlich 39 Prozent wollen das Leben vor allem genießen. Das heißt Hedonismus und Selbstverpflichtung halten sich als Lebensvorstellung fast die Waage und stehen nicht in Widerspruch zueinander.

Um den Zeitgeist zu erspüren, eignet sich besonders gut das Fragenmodell, was zur Zeit »in« und was »out« ist, das das Allensbacher Institut seit den 1980er Jahren anwendet. In diesem Zeitgeist-Panorama der »In-Liste« sind gegenwärtig auf dem ersten Platz »Bio-Produkte«, gefolgt von »Fitness«, »Sport treiben« und »Gesunde Ernährung«. Erst dann folgt »das Leben genießen« und »die Karriere«. Die »Freiheit« ist in dieser Rangfolge dem »Umweltschutz« nachgeordnet. Dieses Fragenmodell misst ausdrücklich nicht die eigene Meinung oder das Verhalten der Befragten, sondern das gesellschaftliche Meinungsklima. Denn empirisch liegt der reale Anteil der Bioprodukte am gesamten Lebensmittelumsatz bei nur 4 Prozent. In der »In-Liste« werden aber auch »das Leben genießen« oder »Flirten« und »gutes Benehmen« genannt. Out sind inzwischen offensichtlich traditionelle Familienmodelle: Für 71 Prozent der Befragten ist die Hausfrauenrolle passé. Auch »religiös, gläubig sein« und »in der Kirche beten« sind für 53 Prozent der Bevölkerung out. Der Zeitgeist ist tendenziell »grün« und gesundheitsbewusst, geprägt von der Wertschätzung bürgerlicher Tugenden und der Ablehnung der Rollen der alten Geschlechterordnung und traditioneller Familienmodelle. Genuss und Hedonismus vertragen sich damit, solange der ökologisch gesteckte Rahmen eingehalten wird.

Auch wenn Unsicherheit im Hinblick auf die Bedrohung des westlichen Lebensstils besteht, ist dessen Wertschätzung insgesamt groß. An vorderster Stelle rangiert die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Pluralität der Lebensstile, die Freiheitsrechte insgesamt und vor allem die Freiheit, sein persönliches Leben gestalten zu können. Das ist ein erfreulicher Befund, der trotz der schwierigen Weltenlage und den anhaltenden Angriffen auf unsere Lebensweise im Westen Anlass zu Optimismus gibt.

Prof. Dr. Ulrike Ackermann

Gründerin und Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung in Heidelberg

 

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