Ein rapid wachsender Anteil der Bevölkerung weltweit verzichtet aktiv auf Nachrichten. Das zeigt der jährlich publizierte «Digital News Report» des Reuters Instituts der Universität Oxford, der im Sommer erschienen ist. Tagesaktueller Journalismus wird ganz bewusst ausgeblendet. Die Wählerschaft in verschiedenen Ländern ist immer schlechter informiert. Fast erleichtert wurde in der Schweiz festgestellt, dass wir mit 26 Prozent Nachrichtenabstinenten einen der hinteren Plätze belegen. Doch das Bild, das die politischen Parteien in diesem Land nur ein paar Wochen später und mitten im Wahlkampf vermitteln, stimmt nachdenklich. Die Lust, deren Inhalten zu folgen, geht verloren.

Die meisten Akteure reagieren bloss auf gerade angesagte Themen. Von der SVP nehmen wir wie so oft die primitiven Plakate hin und geben ihr durch die grosse Empörung mehr Sichtbarkeit, als sie verdient. Mit einer Online-Kampagne gegen parteifremde Kandidaten führt die CVP einen fast schon amerikanischen Wahlkampf. Man freut sich, auch einmal zu provozieren. Klimapolitiker scheint es in diesem Jahr plötzlich Unmengen zu geben, wohingegen kaum ein Kandidat oder eine Kandidatin die Frage nach unserer Beziehung zu Europa stellt. Die Geschichte rund um die Maturfeier der Tochter eines Ständerates und wie ihm politische Gegner halfen, diese besuchen zu können, wird zu einem der meistbeachteten Artikel im Wahlkampf. Klar, eine sympathische Geste der Kollegen im Stöckli, aber rein demokratietheoretisch bedenklich. Diese Tatsache wird kaum besprochen.

Unsere grössten Herausforderungen, die immer schnelleren und globalen Veränderungen, sind kein Thema. Die hiesige Politik scheint dafür kaum gerüstet zu sein. Wie gehen wir hierzulande mit den unantastbaren Digitalisierungsgiganten um? Wer erhält Zugang zu ihren Datenbergen, und was machen wir damit? Dafür reicht es nicht, sich an der kürzlichen Geburtstagsfeier von Google ablichten zu lassen und die Foto in den sozialen Netzwerken zu teilen. Wie sieht es mit der Besteuerung von Algorithmen aus? Diese beeinflussen unser Kaufverhalten nicht nur in Onlineshops. Auch das Konzept der Arbeit gerät in Zeiten der Digitalisierung auf den Prüfstand. Welche alternativen Modelle zu einer bezahlten Tätigkeit bis ins Pensionsalter sind finanzierbar? Wie gestalten wir das Altern neu? Unser Leben wird individueller, und mit 65 Jahren scheint heute manch einer aktiver als mit 35.

Die Parteien verpassen es, aus diesen Entwicklungen Chancen abzuleiten und uns für diese zu begeistern. Sie reagieren vordergründig auf das Thema Klimakrise, bieten aber keine Denkmodelle, wie wir uns als Land auf den nächsten Schock vorbereiten können. Die Parteien zeigen uns nicht, dass sie bereit sind für die ganz grossen Reformen, die wir im heutigen Umfeld so dringend brauchen.

Für unsere direkte Demokratie und für die Zukunft unseres Landes ist dies eine kritische Herausforderung. Eine gesunde Demokratie ist geradezu angewiesen auf Wettbewerb um die besten Antworten. Demokratie benötigt eine Diskussion der grossen Fragen, die weit über die Wahltermine hinausgeht. Sie bedingt die permanente Lust, sich mit unterschiedlichen Fragestellungen zu beschäftigen und sich zu informieren, um eben dann bei den Wahlen gerüstet zu sein.

Laut den Zahlen des im Frühjahr erschienen Buches «Milizarbeit in der Schweiz» ist der Rückgang von freiwilligem Engagement in politischen Parteien massiv. Zwischen 1997 und 2016 ist die Beteiligung um über 42 Prozent gesunken. Ein Grund sei die steigende Komplexität der Themen, heisst es.

Gerade deshalb braucht es auf nationaler Ebene Führungspersönlichkeiten, die authentisch auftreten, die erklären und offen sind, um gemeinsam Lösungen zu finden. Viola Amherd macht das etwa im Bundesrat vor. Sie führt bestimmt und doch partizipativ. Wie in der Wirtschaft braucht es auch in der Politik neue Organisationsansätze. Das Politlabor der Grünliberalen ist ein solch positives Beispiel. Es schafft Raum für kreative Lösungen. Der Partei hilft es, agil zu bleiben und schnell zu lernen. Es brauchte eine andere Form der Kommunikation und der Wähleransprache. Dies hat die relativ junge Partei Neos in Österreich bewiesen.

Traditionelle Parteien sollen sich durch junge politische Bewegungen nicht irritieren, sondern inspirieren lassen. Parteien geniessen nach wie vor grosses Vertrauen. Ich wünsche mir, dass sie die eigentliche Konkordanz wiederbeleben. Konkordanz bedeutet, den Konflikt im Mehrparteiensystem zuzulassen, kooperativ und entlang fester Regeln der Einflussnahme. Denn ein politischer Wettbewerb, dieser Wettstreit um Antworten, ist lebensnotwendig für eine Demokratie. Wählerinnen und Wähler können so verstehen, warum ihre Stimme einen Unterschied ausmachen kann. Dieses gemeinsame Ringen kann uns alle motivieren, aktiv mitzugestalten.

Hier geht's zum Artikel in der NZZ am Sonntag

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