Die Schweizermacher

Mit dem Sammelband „Die Schweizermacher – Und was die Schweiz ausmacht“ ehren Georg Kohler, emeritierter Philosophieprofessor und Felix Ghezzi Rolf Lyssy – Regisseur des gleichnamigen und bis anhin erfolgreichsten Schweizer Filmes – anlässlich seines 80. Geburtstages. Nebst der Würdigung des Filmes und Regisseurs, wird aufgezeigt, dass „Die Schweizermacher“ nicht nur aufgrund seines Erfolges aus der Reihe tanzt, sondern auch sonst polarisiert hat. Wieso Lyssy’s Film ziemlich quer stand, wird in der NZZ-Beilage „NZZ Bücher am Sonntag“ (Bild unten) erläutert.

Der Film warf damals eine Frage auf, die heute aktueller nicht sein könnte: Wie geht die Schweiz mit jenen Bewohnern des Landes um, die keinen roten Pass besitzen? Im Buch wird diese Thematik von mehreren Autoren aufgegriffen und in Rückblicken, Interviews und Quellenmaterial durchleuchtet.

Es ist uns als StrategieDialog21 eine grosse Ehre, dass wir- Jobst Wagner und Nathaly Bachmann - bezogen auf die Gegenwart und zusammen mit Andreas Müller (Avenir Suisse) in der von Georg Kohler geleiteten Gesprächsrunde über das Narrativ von heute und morgen sprechen durften. In „Wir machen die Schweiz. Ein Gespräch über Zuversicht, narrative, gute Politik und was zu tun wäre“ äussern wir uns über das schweizerische Selbstverständnis und dessen Hang, der Zukunft zu misstrauen.

Ein Auszug aus der lebendigen Gesprächsrunde:

GK: „Der Film erzählt die Geschichte von zwei Schweizern, Beamte, zuständig für die Beobachtung einbürgerungswilliger Ausländer. Sie heißen Max Bodmer und Moritz Fischer. Nur wer gesetzestreu und ordentlich ist, kann eine gute Schweizerin, ein guter Schweizer werden. Max Bodmer jedenfalls ist dieser Meinung. Moritz Fischer hingegen nimmt es lockerer und verliebt sich in die nicht restlos angepasste Schöne mit den schwarzen Haaren und dem höchstens halbherzigen Respekt für das städtische Güselreglement.

Da es sich beim Film um eine Komödie handelt, ahnen wir sofort, wie das Ganze ausgehen wird.

Max Bodmer und Moritz Fischer sind die Verkörperung einer die kollektive Identität der Schweiz seit eh und je bestimmenden Grundspannung; nämlich der Dualität und Gegensätzlichkeit von nationaler, kleinstaatlicher Abgrenzung und gesellschaftlich-wirtschaftlicher Weltoffenheit. Diese Gegenstrebigkeit kann im Gleichgewicht sein, doch schnell auch in Blockaden führen. Uns vier, die wir hier diskutieren, verbindet die Überzeugung, dass die gegenwärtige Schweiz allzu stark vom »Bodmer-Pol« dominiert ist. Zwar bleibt unser Land nach wie vor eine herausragende Globalisierungsgewinnerin der letzten Jahrzehnte, doch die Politik, genauer: die öffentliche politische Diskussion, die in der direkten Demokratie von besonderer Bedeutung ist, wird offensichtlich von den Themen der Abgrenzung, des Sonderfalls, der Defensive gegen die uns umgebende angebliche »Fehlkonstruktion« beherrscht.

Warum hat die Moritz-Fischer-Partei keine starke Stimme? Könnte es nicht eine Erzählung über unser Land geben, die etwas weniger von Max Bodmer, der Marignano-Deutung und dem Rütlischwur begeistert ist, stattdessen eine Vorstellung davon hat, wie sich die Schweiz als Schweiz in die seit dem Ende des Kalten Kriegs radikal veränderte Welt einpassen will und kann? Braucht es also ein anderes Narrativ? Können wir so etwas überhaupt (er-)finden?“

AM: „Narrative, Erzählungen – das sind entscheidende Elemente zur Selbstverständigung. Für die Orientierung eines Individuums sind sie nicht weniger wichtig als für die Bestimmung kollektiver Identitäten. Wer und was wir sind, vergegenwärtigen wir uns durch konkrete Geschichten und nicht mit abstrakten Konzepten. Mich stört, dass sich das derzeit dominante Schweiz-Narrativ so sehr auf Abgrenzung und Abschottung konzentriert. Zweitens stört mich, dass dadurch ein »ewiges Wesen« unseres Landes suggeriert wird, eine einzige Sinngestalt, die sich durch alle Zeiten hindurch, von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft, als unveränderlich fest behaupten soll.

Doch das ist erstens historisch falsch und zweitens politisch gefährlich.

»Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«, so hieß es einmal. Geschichte ist Veränderung. Wer sich dem Wandel zu entziehen probiert, der erstarrt und wird früher oder später zerbrechen. Die Schweiz – eben dies halte ich für ihr Wesen – war stets vital, ergo anpassungs- und lernfähig. Doch genau dieser Aspekt der Zukunftsoffenheit ist in keiner starken Schweizerzählung präsent. Es gibt kein politisch durchschlagskräftiges Narrativ, das die Selbsterneuerungsenergie des Landes erinnert; das optimistisch ist, von keiner Furcht behindert oder von Angst beeinträchtigt. Dies Manko ist nichts Harmloses.

NBF: „Einig sind wir im Punkt, dass es nötig ist, eine weniger nationalkonservative, identitätsstiftende Erzählung zu haben. Ich finde es eigentlich erstaunlich, dass wir nicht über ein solches Narrativ verfügen. Denn wer längere Zeit im Ausland gelebt hat, konstatiert rasch, dass es dort – bei aller Kritik am mittlerweile untergegangenen »Bankgeheimnis« – ein Schweizbild gibt, das dem Land viel mehr zutraut als Rückzug und Abwehr. Der andere Punkt, der wichtig ist, ist die emotionale Seite solcher Sachen: Sie müssen ausstrahlen auf die Volksseele. Statt eigensinnigem Trotz gegen die böse Welt sollen sie Neugier wecken, die Lust, etwas zu wagen. Und das muss über Identifikationsfiguren laufen, über Vorbilder und über die Erinnerung an Ereignisse, auf die man stolz sein darf.“

JW: „Das alles unterschreibe ich natürlich. Aber ich möchte jetzt nicht sofort über konkrete Antworten auf das geschilderte Defizit reden, sondern mit der Analyse, der Standortbestimmung, anfangen. Und zwar aus der Sicht eines international tätigen Unternehmers.

Dabei ist die primäre Einsicht, dass das Ende des Kalten Krieges die objektive Lage des Landes in der Welt und insbesondere in Europa fundamental verändert hat. Dass sich das allerdings noch nicht mit wünschenswerter Klarheit herumgesprochen hat, ist mir sofort aufgefallen, als ich nach fünf Jahren (1987–1991) aus den USA zurückkam. Ob sicherheitspolitisch oder wirtschaftspraktisch: Die Kräfteverhältnisse, in die man Jahrzehnte lang eingebettet gewesen ist, hatten sich beinahe schlagartig umgestellt. Ich war erstaunt, wie verhalten – um nicht zu sagen: wurstig – in der schweizerischen Öffentlichkeit auf diese Tatsache reagiert wurde.

Die einen schienen ohne Weiteres anzunehmen, dass es trotz allem so weitergeht wie bisher; dass die Nische, die uns als neutralem Kleinstaat eine Komfortzone im Westen einräumte, in keiner Weise infrage gestellt werden würde. Die anderen, die immerhin ahnten, dass etwas vorbei war, trösteten sich mit dem Gedanken, ein Ausweg werde sich dann schon ergeben. Doch das ist eine grandiose Fehleinschätzung. Denn tatsächlich befinden wir uns seit mehr als 20 Jahren in einer komplexen, schwierigen Situation. Erst recht gilt das seit dem 9. Februar 2014, der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative. Und das ist nicht zuletzt deswegen so, weil jede kühl-rationale Debatte sogleich durch heftigste Emotionen durchkreuzt wird.

Nicht wenige Menschen sind seit ein paar Jahren in eine diffuse, gereizte, von unklaren Befürchtungen getriebene Stimmung geraten, die gefährdet, was sich die Leute vor allem bewahren möchten: den hohen Lebensstandard des Landes, seine vielfältigen Integrationsleistungen, die soziale Sicherheit, die institutionelle Bemühung um Chancengleichheit durch ein exzellentes Bildungssystem usw. Doch das ist nicht auf ewig garantiert. Es zu erhalten braucht unternehmerische Anstrengungen, und das bedeutet: Risikofreude und ein hohes Maß an wirtschaftlicher Freiheit. Also erstens eine ganz andere als die geschilderte Gefühlslage als Basis und zweitens keinen ökonomischen Heimatschutz. Wer furchtsam und mutlos ist, der ist rasch staatsgläubig und fordert von der öffentlichen Hand Dinge, die unvermeidlich lähmende Effekte auf Privatinitiative und Unternehmergeist ausüben.

Zurück zur Überlegung, wie auf den Bruch von »1989«, auf das Ende des Kalten Krieges und die damit verbundenen Konsequenzen, zu reagieren wäre. Natürlich spielt hier die Europafrage eine entscheidende Rolle. Eine nicht-defensive Strategie, obwohl sie notwendig wäre, scheint niemand zu haben. Mich interessierte einmal, warum das so ist. Dabei bin ich nach vielen Gesprächen mit Politikern zur unerfreulichen Erkenntnis gelangt, dass sie die Meinung hegen, die beste Strategie sei, gar keine Strategie zu haben, auf Sicht zu fahren. Grob gesagt: Durchwursteln als Prinzip.

Leider ist diese Haltung in der Schweiz ebenso auf vielen Politikfeldern zu beobachten. Wie man sich auf das Jahrhundertproblem der Migration einstellen soll, wird nicht wirklich ernsthaft diskutiert. Die Politik, oder exakter: die politische Führung, hat Angst vor der Angst der Leute. Kein Wunder, dass unter solchen Voraussetzungen niemand den Versuch unternimmt, das konservative Narrativ, das verspricht, alles bleibt gut, wenn wir nur nichts Neues machen, durch eine Gegenerzählung herauszufordern.“

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