Die Schweiz ist höchst erfolgreich. Alle makroökonomischen Kennziffern sind im Vergleich noch immer hervorragend, wobei erste Gewitterwolken am Wirtschaftshorizont auch hier nicht zu übersehen sind. Gäbe es weder Zeitungen, Internet noch Fernsehen, wüssten wir noch immer kaum, dass da draussen Krise herrscht. Trotzdem dreht die Politik seit Jahren im roten Krisenbereich. Die Menschen spüren, dass alles, was in dieser vernetzten Welt geschieht, irgendwie auch uns betrifft. Sie haben den Eindruck, das Geschehen im stets komplexeren Umfeld entziehe sich zunehmend ihrer politischen Einflussnahme. Besitzstände scheinen plötzlich gefährdet. Gewiss geht es uns noch blendend. Aber könnte nicht der Wirtschaftshistoriker Harold James recht haben, der unlängst in einem Interview sagte, ein kleines Land wie die Schweiz könne in einer instabilen Welt nicht das einzige stabile Land sein, ohne in grosse Gefahr zu geraten? Ängste kommen auf, und diese werden von politischen Kräften eifrig bewirtschaftet.

Tatsächlich hat man den Eindruck, eine altersschwache Weltordnung breche zusammen, ohne dass sich eine neue schon herauskristallisiert hätte, und die reichen westlichen Industriestaaten scheinen aus ihrer selbstverschuldeten Schuldenspirale nicht mehr herauszufinden. Irgendwie läuft alles schief. Wie also inmitten solchen Ungemachs glücklich bleiben?

Zur Annäherung an eine Antwort auf diese Frage gehe ich von drei Thesen aus.

  1. Die Menschen wollen Wohlstand.
  2. Ein Land braucht eine Identität.
  3. Ein Land will in der Welt geachtet sein.

Ich will diese Thesen gar nicht im Detail begründen. Sie sprechen für sich. Menschen in Armut sind nicht wirklich frei und können sich kaum, wie man so schön sagt, selbst verwirklichen. Menschen ohne Identität sind nirgends verankert und fühlen sich in einer Zeit der Ungewissheit macht- und schutzlos. Und wer in einer Welt, deren Probleme grossenteils nur noch gemeinsam gelöst werden können, nicht geachtet und nicht respektiert wird, der wird auch die eigenen Probleme nicht allein zu lösen vermögen.

Aus diesen drei Thesen ergeben sich drei Perspektiven, aus denen das Phänomen Schweiz betrachtet werden muss.

Identität

Dies ist für mich die wichtigste Perspektive. Karl Schmid hat in einem Essay die allgemeine Befassung mit dem Staat als ein Charakteristikum bezeichnet, welches die Schweiz von den anderen europäischen Kulturkreisen tiefgreifend unterscheide. Während dort die Politik an eine besondere offenbar aufgeklärte Classe politique delegiert wird, tritt hier, um mit Gottfried Keller zu reden, der Bürger selber vor die Haustür und schaut zum Rechten. Diese Eigenart führt direkt von den Bürgerversammlungen der mittelalterlichen Talgenossenschaften über die Landsgemeinden zur halbdirekten Demokratie der Moderne, und sie findet Ausdruck im traditionellen Milizsystem, das trotz aller Anfechtungen unsere politische Landschaft noch prägt. Das sind nicht etwa überlebte Relikte vergangener Epochen. Der erwähnte Harold James sieht weltweit einen Drang nach mehr direkter Demokratie gemäss Schweizer Vorbild als Folge des verbreiteten Gefühls, die repräsentative Demokratie entpuppe sich zunehmend als dysfunktional. Und Bruno S. Frey weist nach, dass Menschen in direkten Demokratien glücklicher als in repräsentativen sind. Wer mitbestimmen kann, fühlt sich nicht völlig ausgeliefert. Die direkte Demokratie ist zu einem wichtigen Identitätsmerkmal der Schweiz geworden. Ein zweites ist der ausgeprägte Föderalismus mit weitgehender Finanzautonomie der Kantone. Der Steuerwettbewerb erzwingt bei den Kantonen ein günstiges Preis- / Leistungs-Verhältnis wie bei einem Unternehmen. Die Autonomie für die Gestaltung des näheren regionalen Umfeldes gestattet die Erhaltung von Identität der regionalen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten. Die aus dieser Gestaltungsautonomie erwachsende Bürgernähe führt zu bedarfsgerechteren und günstiger erbrachten Leistungen des Gemeinwesens.

Es ist kaum ein heterogeneres und mit mannigfacheren Zentrifugalkräften belastetes Gemeinwesen als die Eidgenossenschaft denkbar. Dass sie eine äusserst stabile Nation, eine sogenannte Willensnation geworden ist, hat sie der direkten Volksmitsprache und dem Föderalismus zu verdanken. Dazu kommt ein drittes: Eine erstaunliche faktische Toleranz Minderheiten gegenüber. Pluralität ist der dritte Pfeiler unseres nationalen Soseins. Deshalb kann nicht alleiniges Schweizersein beanspruchen, wer diesen dritten Pfeiler mit Füssen tritt.

Das eigentlich Grossartige an dieser dreifach gestützten politischen Kultur ist die Tatsache, dass die Teilnahme daran nicht ethnisch definiert ist, sondern allen offensteht, die dies wollen. Weil die Willensnation aber letztlich fragil ist, reagiert sie empfindlich auf echte oder vermeintliche Anfechtungen dieser drei Pfeiler. Das ist letztlich der psychologische Hintergrund unserer EU-Skepsis.

Wohlstand

Wohlstand wird durch die Wirtschaft erarbeitet. Nur durch die Wirtschaft. Ohne leistungsfähige Wirtschaft gibt es weder Arbeitsplätze noch Sozialleistungen, Filmförderungsbeiträge, Lehrstühle für Soziologie oder AHV für Aussteiger. Über die Wichtigkeit des Wirtschaftlichen wird nur dort gelästert, wo Wohlstand so selbstverständlich geworden ist, dass man diesen elementaren Zusammenhang nicht mehr sieht. Die Erfahrung lehrt, dass nur Marktwirtschaft hinreichenden Wohlstand erarbeiten kann. Dazu braucht die Wirtschaft genügend Freiräume, damit die Märkte spielen können. Dabei wird die Macht der Unternehmen durch den Wettbewerb gebändigt. Ich habe allerdings immer auch die Meinung vertreten, dass die Marktwirtschaft einen zwar begrenzten, aber starken und glaubwürdigen Staat als ordnende Instanz braucht, beispielsweise nur schon zur Sicherung von Wettbewerb.

Deshalb ist die heiss diskutierte Frage müssig, ob die Politik oder die Wirtschaft das eigentliche Sagen hätten. Wo der Staat versagt, gibt es genau so wenig Wohlstand – siehe Griechenland! – wie dort, wo man der Wirtschaft nicht genügend Freiräume belässt. Aber der Standortwettbewerb setzt den Politikern Grenzen, und letztlich kommt dies den Bürgern zu Gute.

Wie konnte nun die Schweiz mit der Bevölkerungszahl einer mittleren chinesischen Grossstadt und ohne Meeranschluss und ohne Bodenschätze eine derartige Wirtschaftskraft entfalten? Wahrscheinlich ist es eine Kombination verschiedener positiver Faktoren, welche dieses Wunder ermöglicht hat. Ich will nur einige Stichworte geben: Hoher Bildungsstand, Fleiss und Zuverlässigkeit des Volkes; Sinn für Selbstverantwortung; gesundes Misstrauen Staatseingriffen gegenüber; loyale, nicht korrupte und verlässliche Verwaltung; liberale Wirtschaftsverfassung; dank Steuerwettbewerb vernünftige Steuern; Rechtssicherheit; gute Infrastruktur; Weltoffenheit. In jahrzehntelanger Aufbauarbeit haben Politik und Wirtschaft Standortbedingungen geschaffen, die unser Land in Standortratings seit Jahren in die Spitzengruppe bringen.

Ein kleines Land kann überdurchschnittlichen Wohlstand nur durch Austausch von Waren und Dienstleistungen mit dem Ausland erarbeiten. Etwas verkürzt könnte man sagen, dass die Schweiz ohne Globalisierung ein Entwicklungsland wäre. Die weltweiten Handelsliberalisierungen, die günstigen und schnellen Transporte, der freie Kapitalverkehr sowie die modernen Kommunikationstechnologien führen dazu, dass Produktionsstätten, Managementkapazität, Technologie und Kapital jederzeit dorthin verlagert werden können, wo man bessere Standortbedingungen vermutet. Die Folgerung für die Schweiz ist einfach: Unser Wohlstand kann nur erhalten werden, wenn unsere Standortbedingungen bei den Besten sind, wenn wir genügend Marktzugang im Ausland haben, wenn es sich lohnt, hier zu investieren und wenn die Schweiz attraktiv für die besten Talente ist. Weil andere Länder das auch wissen, befinden wir uns in einem intensiven Standortwettbewerb. Weil Standortbedingungen anderer Länder sich stets verändern, ist Standortqualität ein bewegliches Ziel und Standortpolitik eine zentrale permanente staatliche Aufgabe. Ich will nur einige wichtige Standortfaktoren aufzählen: Zunächst natürlich politische und soziale Stabilität. Dann aber vernünftige Regelungsdichte; flexible Arbeitsmärkte; vernünftige Steuern; leistungsfähige Infrastruktur; gutes Bildungssystem; Berechenbarkeit und Stabilität der Politik; solid finanzierte wirksame Sozialwerke, welche die Wirtschaft nicht überlasten und den Leistungswillen nicht dämpfen; gute makroökonomische Rahmenbedingungen (gesunde Staatsfinanzen, stabile Währung etc.), wirtschaftsfreundliches Gesellschaftsrecht, Offenheit der Märkte; usw.

Stellung der CH in de Welt

Die dritte These hat mit unserer Stellung in der Welt zu tun. Es kann uns nicht gleichgültig sein, was man im Ausland über uns denkt. Die Reaktionen etwa in den USA auf die Auseinandersetzungen um das Verhalten der Schweiz im Weltkrieg oder die Emotionen um die Bankgeheimnisfrage belegen dies. Gewiss, das Image der Schweiz bei den Völkern ist noch immer ausgezeichnet, bei den ausländischen Politikern hingegen eher weniger. In Krisensituationen spüren wir oft eine gewisse Einsamkeit, einen Mangel an Freunden. Je eigenständiger und unabhängiger wir sein wollen, desto wichtiger ist ein Verhalten, welches uns als konstruktives und solidarisches Mitglied der Völkergemeinschaft erscheinen lässt. So gesehen sind UNO Mitgliedschaft, Entwicklungshilfe, angemessene militärische Auslandeinsätze oder Solidaritätsbeiträge an neue EU-Mitglieder nicht einfach unnötige Geldverschwendung, sondern notwendige Wahrnehmung von Verantwortung bei der Lösung global wichtiger Probleme. Wir brauchen eine aktive, wenn auch nicht aktivistische Aussenpolitik.

Zurzeit gibt es keine ernstzunehmende politische Kraft in der Schweiz, welche den EU-Beitritt anstrebt. Die Stimmung im Volk ist nicht beitrittsfreundlich. Trotzdem scheint es sich für die grösste Schweizer Partei politisch auszuzahlen, so zu tun, als strebten starke geheime Kräfte im Land den EU-Beitritt an und als ob dieser ohne den erbitterten Widerstand besagter Partei nicht verhindert werden könnte. Dass diese politische Spiegelfechterei offenbar erfolgreich ist, belegt, dass der EU-Frage eine seltsame emotionale Bedeutung zukommt. Eigentlich ist das auf den ersten Blick unlogisch. Die Schweiz liegt im Zentrum Europas. Sie ist Teil dreier grosser europäischer Sprach- und Kulturräume und teilt die abendländischen Werte der Menschen in der EU. Sie ist wirtschaftlich eng mit der EU verzahnt, indem 59 Prozent ihrer Exporte in die EU fliessen und 79 Prozent ihrer Importe von dort kommen. Was läge näher, als den Schritt zur vollen Integration zu wagen!

Ich bin seit Jahren klar der Meinung, dass die Schweiz der EU nicht beitreten soll. Aber die hierzulande von gewissen politischen Kräften gepflegte systematische Verzerrung der EU zum Feindbild – die in der EU sehr wohl wahrgenommen wird! – halte ich für falsch, ungerecht und unverantwortlich. Politisch ist die EU trotz der gegenwärtigen Schuldenkrise ein eindrücklicher Erfolg. Angesichts der blutigen Geschichte des Kontinents und der entsetzlichen Erfahrung zweier Weltkriege entwickelten die Väter der Union das Konzept, Kriege in Europa durch zunehmende wirtschaftliche Verflechtung, durch die Errichtung supranationaler Strukturen, durch die Teilung nationaler Souveränitäten und durch die schrittweise Schaffung von gemeinsamem Recht ein für allemal zu verunmöglichen. Diese Idee wurde Schritt für Schritt erfolgreich umgesetzt. Die wirtschaftliche Integration war also nicht Ziel, sondern Mittel. In der ersten Stufe wurden die Erzfeinde Deutschland und Frankreich sowie die Gegner des zweiten Weltkrieges verbunden, und in der zweiten Stufe konnte mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder die Teilung Europas durch den Eisernen Vorhang überwunden werden. Die Schaffung des grössten Binnenmarktes der westlichen Welt ist eine herausragende Leistung, und die politische Anziehungskraft der EU ist ungebrochen.

Ich beurteile die EU im Lichte der Zielsetzungen ihrer Gründer also als grossen Erfolg. Historische Gegner wurden versöhnt, Diktaturen wandelten sich friedlich in Demokratien, der durchschnittliche Wohlstand nahm zu. Nun ist jene Generation in der Verantwortung, für welche der Friede selbstverständlich geworden ist, und Fehler nationaler Finanz- und Wirtschaftspolitiken sowie ökonomische Konstruktionsfehler der Währungsunion haben die EU in ihre wohl gefährlichste Krise manövriert. Die eurokritischen politischen Kräfte bekommen Auftrieb. Nicht einmal ein Auseinanderbrechen der EU erscheint mehr als völlig undenkbar. Gerade für die Schweiz und ihre Stabilität wäre dies eine gefährliche Entwicklung. Ich glaube, dass sich die EU grundsätzliche Fragen zu ihren Strukturen und Anreizsystemen stellen muss, wenn sie im globalen Wettbewerb bestehen will.

Diesen Artikel teilen