Es sind vor allem alte Leute, die im Parlament sitzen und vor allem junge Leute, die auf dem Bundesplatz davorstehen und protestieren. Aber wo sind all jene, die nicht auf dem Platz oder im Bundeshaus sitzen, interessieren sie sich einfach nicht für Politik?
Ich glaube, politisch sein hat für alle Menschen eine andere Bedeutung. Für manche ist es, in einer Partei sein, in einem Komitee oder einem Verwaltungsrat. Für andere ist es Zeitung lesen, in Gemeindeversammlungen gehen und mitreden. Für wieder andere ist es demonstrieren und Social-Media-Posts.
Für mich ist Politik Abstimmen. Die eigene Meinung als winzigen Teil beifügen, um ein grosses Ganzes zu schaffen, jede Stimme zählt.
Viele Leute, die in der Schweiz wohnen, werden durch ein diskriminierendes System von dieser politischen Partizipation ausgeschlossen und dürfen in dem Land, das sie Heimat nennen, nicht mitbestimmen. Aber nichtsdestotrotz, die hohe Stimmbeteiligung dieses Mal zu sehen, gibt mir ein gutes Gefühl, unter Leuten zu leben, die ihre Zukunft aktiv mitbestimmen wollen. Vor allem progressive und junge Wählende haben mehr gewählt, die Jugend ist politisch wie schon lange nicht mehr, die Zukunft so wichtig wie noch nie.
In welche Richtung werden wir also nach diesen Abstimmungen streben; peilen wir weiterhin den altbekannten, konservativen Kurs an oder stellen wir das Steuer auf eine neue, progressive und weltoffene Richtung ein? Wir haben die Chance, den Wind dieser Abstimmungen zu nutzen, bei der so viele Leute ihre Meinung zum Ausdruck gebracht haben, um eine für alle zugängliche Politik des Mitbestimmens und Diskutierens zu schaffen.
Die Bevölkerung hat mit ihren Entscheiden am 27. September klar gezeigt, dass sie auch über den eigenen Tellerrand hinaussieht. Dass gute Beziehungen zur EU und ein fairer Sozialstaat in der Schweiz wichtig sind. Dass die Schweiz sich eben nicht nur durch grosse finanzielle Stärke und eine Politik der Angst, sondern viel mehr durch Zusammenhalt, Nachhaltigkeit und Kommunikation, auszeichnet. Abstimmungen geben uns die Chance, Dinge im Präsens zu ändern, um das Futur nachhaltig zu beeinflussen.
Es ist wichtig, nach diesen Abstimmungen nicht einfach auf der Vorstellung einer guten Zukunft auszuruhen, zu der wir ‚JA‘ gestimmt haben, sondern sie weiterhin aktiv mitzugestalten. Gute bilaterale Verträge zur EU auszuarbeiten und die Unterstützung von Eltern durch den Staat weiter ausbauen sind nur der Anfang einer langen Liste. Die Schweiz muss von einer reaktiven zu einer aktiven Politik wechseln, damit verpasste Dinge nicht später mühsam aufgeholt, sondern von Vorhinein richtig angegangen werden.
Abstimmungen sind ein Rückbesinnen auf die Werte, für die wir als Land stehen, und welche Politik wir uns wünschen. Parteien schliessen Bündnisse und Koalitionen, wir diskutieren und bilden uns eine Meinung, bei der wir uns andern entweder anschliessen oder uns abspalten.
Ich glaube, die Begrenzungsinitiative hat die Schweiz weder zerrüttet noch auseinandergebracht. Wenn, dann hat sie nur bereits vorhandene Differenzen, wie den Stadt-Land -Unterschied, aufgezeigt. Aber Örtlichkeiten beiseite, mit dem klaren ‚NEIN‘ zu dieser fremdenfeindlichen Initiative haben wir einen Zusammenhalt und unsere Offenheit bewiesen. Dass wir kein kleines, abgeschottetes Land sind, sondern uns als den globalen und besonders in der EU stark vernetzten Staat sehen, der die Schweiz ist. Dass wir alleine nicht alles können, und dass gerade in dieser unsicheren Zeit die Zusammenarbeit mit anderen besonders wichtig ist.
Es hat auch gezeigt, dass wir nicht länger bereit sind, die fremdenfeindliche Politik der bürgerlichen Parteien widerstandslos an- und hinzunehmen. Dass wir anfangen, das Paradox von menschlicher Abschottung auf der einen und finanzieller Öffnung auf der anderen Seite, von Landliebe und Fremdenhass zu hinterfragen. Dass wir uns auf höhere Werte als nur gerade die eigene Bereicherung auf Kosten anderer berufen und dass wir eine gerechtere und nachhaltige Zukunft anstreben. Für die Leute in der Schweiz, für die Umwelt, die Menschenrechte und Beziehungen zu anderen Staaten.
Die Begrenzungsinitiative hat die Schweiz nicht gespalten, sie hat im Gegenteil grosse Teile der Bevölkerung und viele Parteien zusammengebracht, die für eine weltoffene Schweiz stehen.
Und seien wir ehrlich, die Zukunft wird nicht einfacher werden. Neben der aktuellen Pandemie werden weitere Krisen, ganz besonders die Klimakrise, dazukommen. Ich will hier keine Dystopie ausmalen, sondern vielmehr sagen, dass jetzt der Moment ist, um zu agieren und die Schweiz in die Richtung einer nachhaltigeren und gerechten Zukunft zu steuern.
Ich hoffe, und glaube, wir haben gemerkt, dass wir alle etwas bewirken können, sei es auf dem Bundesplatz an einer Demonstration, im Bundeshaus, oder eben an der Urne. Die Zukunft gehört allen und geht alle etwas an, und ganz besonders gehört sie eben den jungen Leuten, den progressiven Ideen und der sozialen Politik für eine Schweiz, die im Heute wie auch im Morgen für alle lebenswert ist.