Im Hintergrund sind die Rufe eines kleinen Jungen zu hören. Gudrun wendet ihr Ohr kurz vom Telefonhörer ab und reagiert auf die Stimme. »Florian, ich bin gerade am Telefon. Musst du auf die Toilette?« Im Hintergrund ist wieder die Stimme des Jungen zu hören. »Geh zu Papa, der ist auch da. Ich unterhalte mich hier gerade mit jemandem.« Als Florian das Zimmer wieder verlässt, wendet sich Gudrun zurück an den Telefonhörer. »Entschuldige die Unterbrechung«, sagt sie zu mir. Ich kenne Gudrun bereits seit einigen Jahren, da ich für ihr Unternehmen gearbeitet habe. Aus diesem Grund nennen wir uns beim Vornamen. Auf die Frage, ob sie das Gespräch lieber später fortsetzen möchte, antwortet sie ganz gelassen, dass ihr Partner da wäre, er könne nach dem gemeinsamen Sohn sehen. Gudrun hat zwei Kinder, ihren 3-jährigen Sohn Florian und die fünf Monate alte Tochter Nora. Die junge Familie lebt in Feusisberg im Kanton Schwyz, nur eine halbe Stunde Autofahrt entfernt von der hektischen Grossstadt Zürich. Eine ruhige und erhöht gelegene Gemeinde, das von Einfamilienhäusern und einem Blick auf den Zürichsee geprägt ist – eine ländliche Idylle. Ihr Wohnort weist ähnliche Eigenschaften auf wie ihr Auftritt als Geschäftsfrau. Immer den Überblick und Ruhe bewahren. Gudrun ist eine Person, die man selten, um nicht zu sagen niemals panisch oder gestresst sieht.

Wer mit ihr zusammenarbeitet, merkt schnell, wie unerschütterlich ihre Ruhe ist. Selbst wenn sie mit einem Mietwagen auf einer stark befahrenen Strasse mitten in Zürich stehen bleibt und das Fahrzeug nicht mehr anspringt. Als dies tatsächlich einmal passierte, war sie gerade auf dem Rückweg von einem Bepflanzungsprojekt und hatte bereits einen ganzen Tag voll körperlicher Arbeit und viel Herumlaufen hinter sich. Natürlich war nicht nur sie auf dem Weg in den Feierabend. Unter der klangvollen Kulisse des Hupkonzertes, das sie in ihrem liegen gebliebenen Auto bald umgab, drehte sie sich kurz zu ihrem Beifahrer. Ob er Corinna anrufen könne, fragte sie. Sie wüsste vielleicht, wie man den Mietwagen wieder zum Laufen kriegt. Kein Fluchen, kein Malträtieren des Lenkrads, noch nicht einmal ein leises Seufzen oder Augenrollen angesichts der unangenehmen Situation. So viel Selbstbeherrschung und Ausgeglichenheit hat freilich nicht jeder; die meisten anderen Leute wären in so einer Situation wohl ausgerastet oder verzweifelt mit dem Kopf auf das Lenkrad gesunken.

Der Liebe wegen in die Schweiz gekommen

Wer sich mit Gudrun unterhält, hört ihr schnell an, dass sie ursprünglich nicht aus der Schweiz stammt. Ihr Dialekt ist ein Gemisch aus einer österreichischen Mundart und Hochdeutsch, der hier und da mit etwas Schweizerdeutsch gespickt ist. Aufgewachsen ist sie nämlich in der kleinen Ortschaft Schwaz im Tirol, wo sie 1981 das Licht der Welt erblickte. Auch wenn sie im Tirol eine, nach eigener Aussage, schöne, unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit verbrachte, zog es sie bereits früh von zu Hause weg. Schon vor Beginn ihres Studiums an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck nahm sie es sich zum Ziel, für ein grosses und internationales Unternehmen zu arbeiten. Während ihres Austauschjahres an der Dublin City University in den Jahren 2001 und 2002 verliess sie für längere Zeit ihr Heimatland Österreich. Nachdem sie 2004 ihr Bachelorstudium in Internationalen Wirtschaftswissenschaften abgeschlossen hatte, war für sie klar, nicht im Tirol bleiben zu wollen. Auf die Frage hin, wo sie sich damals hätte vorstellen können zu leben, gibt sie dementsprechend Grossstädte wie München oder Wien an.

Ihr Weg sollte jedoch weder nach München noch in die österreichische Hauptstadt führen. Während ihres Studiums in Innsbruck war sie nämlich Teil der internationalen Studierendenorganisation AIESEC. Ganz wie es schon damals ihrem zielstrebigen Naturell entsprach, nahm sie im Rahmen dieser Organisation an vielen Studienreisen und internationalen Kooperationen teil. Während dieser Zeit lernte sie ihren jetzigen Partner Fabian kennen, der Schweizer ist. Erstmals begegneten sie sich während einer Konferenz in Tunesien und wurden bald darauf ein Paar. So kam sie im Jahr 2003 »der Liebe wegen« in die Schweiz. In den Mittzweitausender-Jahren, der Zeit vor der Wirtschaftskrise, war es noch einfacher, in einem Grossunternehmen Fuss zu fassen, erinnert sich Gudrun. So konnte sie kurz nach ihrem Umzug in die Schweiz ohne grosse Verzögerung ein Praktikum in Genf antreten, woraufhin sie für die AIESEC für ein Jahr im nationalen Führungsteam arbeitete. Von 2005 bis 2010 war sie für die Beratungsfirma Accenture tätig. 2009 setzte sie ihre akademische Karriere fort, indem sie an der Universität St. Gallen ihr Executive-MBA-Studium aufnahm. Dieses schloss sie 2010 mit einem Master of Business Administration in Internationalen Wirtschaftswissenschaften ab.

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