In vielen Familien und Freundeskreisen, Schulklassen und Leserbriefspalten, Social-Media-Kanälen und auf der Strasse ist der Ton seit Sommer 2021 giftig und rau geworden. Dieses Phänomen hängt stark mit der Covid-Pandemie und den zwei Lagern von Geimpften und Ungeimpften zusammen. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) lancierte darum im November 2021 einen landesweiten Appell für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Mehr als 30'000 Personen unterzeichneten diesen Aufruf zu einer respektvollen Gesprächskultur. Ein Appell sowie Statements von Fussballern und ehemaligen Bundesrätinnen schaffen selbstverständlich noch keinen landesweiten Dialog, aber sie tragen dazu bei, fünf wesentliche Fragen über den Zusammenhalt und die Spaltung der Gesellschaft zu stellen.

Wer darf zu welchem Zusammenhalt aufrufen?

Wenn eine Person oder Gruppe gegen die Gefahr einer gesellschaftlichen Spaltung aufruft, erscheint dies auf den ersten Blick vermutlich den meisten sympathisch. Aber was verleiht jemandem die moralische Legitimation, mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fordern? Gehört diese Person oder Gruppe einer privilegierten Elite oder ökonomischen Macht oder einer an der Spaltung leidenden Minderheit an? Und welches Bild von Zusammenhalt und Einheit steckt hinter dem Appell? Hängen die Initianten der Illusion einer homogenen Gesellschaft mit einer abendländischen Leitkultur nach oder haben sie eine offene und inklusive Gesellschaft vor Augen?

Wann sind Gräben bedrohlich?

Gesellschaftliche Gräben sind dann schlimm, wenn sie zu Gewalt und Krieg führen. Letztmals geschah dies auf Schweizer Boden im Jahr 1847. Der Sonderbundskrieg war die Spitze von jahrzehntelangen Spannungen zwischen Konservativen und Fortschrittlichen, Stadt- und Landkantonen, Katholiken und Protestanten. Heute zeugen die Gräben in der Schweiz eher von einer gesunden Einheit und Vielfalt. Rösti- und Polentagraben sind zwar Ausdruck der Vernunftehe zwischen den germanischen und den lateinischen Regionen. Aber abgesehen von der Abneigung, die Sprache der je anderen bereits in den ersten Schuljahren zu lernen, sind es andere Gräben, die heute das Zusammenleben der Menschen zwischen Rorschach und Genf, Basel und Chiasso herausfordern: Altersvorsorge und Generationensolidarität, Wertedissens, kulturelle und sprachliche Vielfalt, politische Partizipation, Gendergerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Digitalisierung, Arbeitsverteilung, Stadt-Land-Peripherie-Graben sowie das Verhältnis zur EU und der übrigen Welt. Michael Hermann zeigte in seinem Buch «Was die Schweiz zusammenhält» auf, dass und wie die zahlreichen Trennlinien feinmaschig aufgebaut sind, sich oft überschneiden und mitten im permanenten Wandel eine stabile Einheit in Vielfalt darstellen.

Wie steht es um die Polarisierung?

Bis am Ende des 20. Jahrhunderts bewegte sich die Schweizer Gesellschaft zwischen zwei weltanschaulichen Polen. Die konfessionellen Milieus verfügten über eigene Tageszeitungen, Parteien, Turnvereine, Blasmusikgesellschaften und Gasthäuser. Die Sitzordnung im Schweizer Parlament zeugt bis heute vom klassischen Links-Mitte-Rechts-Schema, obwohl diese Eindimensionalität längst nicht mehr der gesellschaftlichen Realität entspricht. Die beiden Narrative – hier die weltoffenen Multikultis und dort die identitären Patrioten – scheitern an der Komplexität und Fragmentierung der heutigen Gesellschaft. Heute verlaufen die gesellschaftlichen Fronten nicht mehr zwischen Egalitären und Elitären, Progressiven und Konservativen sowie Internationalistischen und Nationalistischen. Die Stiftung «More in Commons» stellt auf Grund von breiten Befragungen sechs ähnlich grosse gesellschaftliche Gruppen fest, die unterschiedlich auf die sich rasch verändernde Welt reagieren: Offene, Involvierte, Etablierte, Pragmatische, Enttäuschte und Wütende. Gerade im Umgang mit den vom Bund bestimmten Covid-Massnahmen ist gut wahrnehmbar, dass die Reaktionen nicht mehr den klassischen Polen entlang verlaufen.

Welche Rolle spielt die Covid-Pandemie?

Bei jeder Krise oder Krankheit gibt es ursächliche, beeinflussende und auslösende Faktoren. Die Covid-Pandemie ist zu einem Teil zweifellos der Grund für die heutigen Spannungen in Familien und Freundeskreisen. Die Schweiz hat seit 77 Jahren keinen so langen Krisenmodus mehr erlebt. Der chronische Umgang mit widersprüchlichen wissenschaftlichen Aussagen, mit Druck von staatlich gestützten Unternehmen sowie mit behördlichen Massnahmen auf der Basis von vorläufigem Halb-Wissen nagt am Vertrauen in unsere Institutionen und kratzt sowohl an der persönlichen Resilienz als auch am sozialen Kitt. Die Covid-Pandemie ist aber mindestens so sehr ein beeinflussender und auslösender Faktor für die derzeitigen Spannungen. Das Virus hat im Sinne der Katharsis in der griechischen Tragödie das Leiden vieler Menschen an die Oberfläche gebracht: das Leiden an chronischen Krankheiten, an Einsamkeit oder an Armut sowie die Anfälligkeit vieler Zeitgenossen für Verschwörungstheorien. Und auf der politischen Ebene hat Covid den jahrzehntelangen Reformstau in der Altersvorsorge, im Verhältnis zur EU, in der Klimapolitik sowie in der Erweiterung und Digitalisierung der Demokratie wie ein Brennglas sichtbarer gemacht.

Wie kreieren wir eine Dialogkultur?

Schnelle, einfache und pfannenfertige Rezepte für eine landesweite Dialogkultur gibt es nicht. Aber fünf Zutaten sind unerlässlich:

  • Das «Wir» erweitern: Geschichts- und Selbstbilder prägen unser politisches und gesellschaftliches Handeln. Wenn das «Wir» nicht polarisieren soll, muss es sich möglichst auf die gesamte Bevölkerung beziehen. Einheit und Zusammenhalt können heute nur heterogen und vielfältig gedacht und gelebt werden.
  • Kontroversen zulassen: Weil die Schweiz ein kleines Land ist und sich die Menschen oftmals in unterschiedlichen Rollen begegnen, grenzen Harmoniebedürfnis und Konfliktscheu nicht selten an eine «Friedhöflichkeit». Gleichzeitig ist gerade in ländlichen Regionen das schweigende, passiv-aggressive Aussitzen von Konflikten weit verbreitet. Zwischen diesen Extremen liegt die sachbezogene Auseinandersetzung, die nicht auf die Person zielt, sondern Argumente kritisch abwägt und kreativ um stimmige Kompromisse ringt.
  • Auf Verbindendes fokussieren: Die gehässige Atmosphäre in allen Bereichen der Gesellschaft hängt stark mit der Fixierung auf die trennenden Positionen bezüglich der Covid-Impfung ab. Für beide Positionen gibt es valable Argumente, die es zu würdigen gilt. Gleichzeitig wäre es sinnvoller, uns auf verbindende Themen auszurichten. Letzthin untersuchte ich im Archiv der SGG die GV-Protokolle der Jahre 1810-1848. Die anwesenden katholischen und reformierten Politiker, Juristen, Ärzte und Pfarrer thematisierten kein einziges Mal die politische Spaltung, sondern fokussierten ihre Gespräche gänzlich auf gemeinsame soziale Projekte.
  • Empathie entwickeln: Bei einem Duett sind Klänge und Rhythmen im Voraus festgelegt. Der Verlauf und das Ergebnis eines Dialogs sind hingegen offen und unvorhersehbar. Dialog setzt die Bereitschaft voraus, sich auf die Perspektive und die Meinungen des Gegenübers einzulassen und sich von den Leiden und Ängsten, Hoffnungen und Bedürfnissen des Gegenübers betreffen zu lassen.
  • Neue Dialogformen kreieren: Auf allen Ebenen der Gesellschaft braucht es Orte, an denen wir in einem geschützten Rahmen ungeschützt und kontrovers denken und reden können. Initiativen wie «Die Schweiz spricht» sowie Bürger:innenräte, Allmenden und nationale Sprechsäle wird die SGG zusammen mit anderen Akteuren aus Politik und Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Zivilgesellschaft in den kommenden Jahren prüfen und fördern.
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