Tankred Götsch öffnet die Tür der Via Cantonitt 12 in Mergoscia, Tessin: Rotblonde Haare und Bart, ein Lächeln umspielt die blauen Augen in seinem wettergegerbten Gesicht. Der 47-Jährige wuchs einen Grossteil seiner Kindheit und Jugend in Brasilien auf, bevor er Mitte der 1990er-Jahre in die Schweiz zurückkehrte und vor fünf Jahren ein Tessiner Weingut übernommen hat. Im Haus der Familie Götsch riecht es nach Stroh und Holz. Die grossen Fenster und das helle Fichtenholz sorgen für lichtdurchflutete, freundliche Räume. Eine dicke Strohschicht isoliert das selbst gebaute Heim. »Wenn es draussen stark windet, riecht man das Stroh noch viel mehr«, sagt seine Frau Beatrice Götsch. Sie ist zuständig für den administrativen Teil des Familienunternehmens und kümmert sich um die Buchhaltung und Kundenbestellungen. Die beiden lernten sich auf der Hochzeit einer gemeinsamen Freundin kennen. »Es war wie Liebe auf den ersten Blick. Aber auch auf den zweiten«, sagt sie.

Diese Strohisolierung des Hauses ist so gut, dass die Familie pro Winter weniger als einen halben Ster Brennholz braucht. Geheizt wird nur im oberen Stockwerk. Im unteren befinden sich die Schlafzimmer. Dort bewegt sich die Temperatur auch ohne Heizung zwischen 16 und 20 Grad. In jedem Zimmer gibt es eine weisse Lehmwand; sie sorgt dafür, dass Feuchtigkeit aufgenommen und abgegeben wird und speichert ausserdem Wärme. Vom grossen, sonnigen Balkon aus reicht der Blick über den Stausee Lago di Vogorno, eingebettet in bewaldeten Hügeln, bis hin zum Lago Maggiore im Tal. Der süssliche Geruch von Bialetti- Kaffee wabert durch die Küche. Nach der Kaffeepause muss Götsch auf einem Stück Land mit Reben nach dem Rechten sehen. Er setzt seinen schwarzen Filzhut auf und öffnet die Türe seines weissen VW-Busses. Der Appenzeller-Mischling Zappa springt auf den Rücksitz, der Hund folgt Götsch überallhin, wenn er die Rebberge bewirtschaftet oder sich um seine Tiere kümmert.

Vor dem Bau ihres eigenen Hauses wohnte Götsch mit seiner Frau und den zwei gemeinsamen Söhnen Aviel und Yosha in einem alten Steinhaus in der Nähe, welches zum Hof gehörte. Ratten zählten zu den regelmässigen Besuchern, und da es keine Heizung gab, waren im Winter Temperaturen von ungemütlichen sechs Grad keine Seltenheit. Die Familie leistete sich bewusst keine bessere Wohnung für die Übergangszeit. Das Geld wollte sie lieber in den Bau des Hauses investieren, denn zum gekauften Betrieb gehört auch ein Stück Bauland. Im August 2018 konnte sie ihr neues Zuhause, exakt 760 Meter über dem Meer gelegen, beziehen. Auch drei Jahre später ist noch nicht alles ganz fertig, dafür fehlt gerade die Zeit.

Auf und davon – das Aussteigerleben in Brasilien

Bis zu Tankred Götschs fünftem Lebensjahr lebte er mit seinen Eltern in der Stadt Zürich. 1979 wanderte die Familie nach Costa Rica aus. Ein paar Jahre später, nach einem weiteren Zwischenstopp in der Schweiz, zog es sie nach Brasilien. Der Familienvater Ernst Götsch, erfahrener und experimentierfreudiger Landwirt und Forscher im gleichen Bereich, übernahm 1984 eine Farm in Piraí do Norte im Bundesstaat Bahia, 13 Grad südlich vom Äquator. Dort baute die Familie zuerst im Auftrag eines Zürcher Investors Kakao an. Als der Kakaopreis ein Jahr später einbrach, setzte sie auf verschiedene tropische Früchte und exportierte diese gedörrt in die Schweiz. Monatelanges Tüfteln am selbst gebauten Dörrofen bis zur Perfektion. Zwei Tonnen Bananen und Ananas pro Jahr. Genug, um davon leben zu können. Die Familie reiste in unregelmässigen Abständen zurück nach Europa, um die Grosseltern zu besuchen. Fotos von der Zeit in Brasilien gibt es nur wenige. »Die meisten haben die Termiten gefressen. Nur jene, die wir den Grosseltern geschickt haben, sind bis heute erhalten.«

Der damals zehnjährige Tankred Götsch hatte inzwischen vier jüngere Schwestern bekommen. Drei Kilometer von der Farm entfernt lag die nächste Siedlung und 27 Kilometer weiter ein kleines Zentrum, wo man alles für den täglichen Bedarf finden konnte. »Die Gegend war meist hügelig oder sumpfig, einen geeigneten ›Tschuttiplatz‹ zu finden fast unmöglich«, erzählt Götsch. Dreimal am Tag hielt ein Bus in der Nähe, einbis zweimal im Jahr fuhr die Familie zum 70 Kilometer entfernten Strand und zur 500 Kilometer entfernten Stadt Salvador.

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