Ich mag mich noch gut dran erinnern. An jenem Abend waren meine Lungen ein wenig strapaziert, ich war soeben von der Küste Brasiliens nach La Paz zurückgekehrt. Und La Paz liegt auf 3600 Metern über Meer. Da ist die Luft schon recht dünn. Ich kam also gegen elf Uhr nachts nach Hause, und Marianne sagte mir, dass der Palacio zu Hause angerufen hatte. Ich dachte mir nichts weiter dabei – Palacios war der Nachname eines Anwalts in Bolivien. Ich sagte ihr, dass ich am nächsten Morgen zurückrufen würde.

– Nein, René, du musst jetzt gleich anrufen. Es ist der Palacio.

Ich brauchte einen Moment, um wirklich zu verstehen. Dann wählte ich die Nummer.

– Guten Abend, René! Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Bitte kommen Sie zum Palacio.

– Wann soll ich kommen?

– Um zwölf Uhr.

– Alles klar. Dann sehen wir uns morgen Mittag. Gute Nacht, Señor Presidente.

– Nein, René, jetzt! Ich erwarte Sie um Mitternacht.

Es war dieser unerwartete Telefonanruf des bolivianischen Präsidenten Sánchez de Lozada im Jahre 1993, der das Leben des damals 45-jährigen Juristen René Blattmann verändern sollte – und mit ihm das Justizsystem eines gesamten südamerikanischen Staates. Eine Geschichte über Gerechtigkeit.

Braillard, Buendía und die Schlüssel

Wenige Gehminuten von der französischen Grenze entfernt hat sich René Blattmann niedergelassen. Seit Januar 2021, da sei er 73 Jahre alt geworden, sagt er, lebt er hier, in diesem brandneuen Gebäudekomplex, alleine und doch nahe bei der Tochter und deren Familie, die im selben Dorf wohnt. Vom zweiten Stock aus sieht man Wiesen, Landstrassen, zwei riesige Türme in der Ferne, den Nachbarn in die Stube hinein. Im Wohnzimmer hängen Gemälde, hier eines von Joan Miró, dem bedeutendsten spanischen Maler des letzten Jahrhunderts nach Dalí und Picasso, dort eines von Milguer Yapur, einem indigenen bolivianischen Künstler. Auf dem Holzschrank neben dem Esstisch steht die Justitia, neben der Küche ein weiteres Gemälde Yapurs. Daneben liegen präkolumbische Relikte des Aymara- Volks in einer Vitrine. Wir befinden uns in Allschwil bei Basel – irgendwie aber auch dort, wo man Hola sagt und nicht Hallo.

Zwei Welten, die zu einer wurden. Die Welt der Blattmanns. Der Grossvater bricht 1906 im Auftrag einer Pariser Firma von Basel nach Bolivien auf; die Braillard & Co. mischt im Kautschukhandel mit, der Mitte des 19. Jahrhunderts im Amazonasgebiet floriert und gravierende Konsequenzen für die indianische Bevölkerung hat. Karl Blattmann kommt und bleibt, er arbeitet sich im tropischen Norden des Landes hoch und lernt Cristina Oyola kennen, eine Halbindigene. 1916 wird das einzige Kind aus dieser Ehe geboren, René Carlos, der allerdings nur die ersten drei Jahre seines Lebens in Bolivien aufwächst, denn Karl war an Malaria erkrankt und kehrt schliesslich mit dem Sohn nach Basel zurück, ohne seine Frau Cristina. 1937 erliegt er der heimtückischen, damals noch nicht behandelbaren Krankheit. Die folgenden drei Jahre bleibt René Carlos am Rheinknie. Er hat Freunde hier, spielt Handball, »ganz normal«, meint René, sein Sohn, aber aufgefallen sei er eben doch; diesen dunklen Teint, den habe man damals in der Schweiz noch nicht gekannt. Das Fernweh scheint den Halbwaisen dann doch zu packen, gut möglich, dass er Sehnsucht nach der Mutter hat. So kehrt René Carlos mit vierundzwanzig ins Geburtsland zurück. Er lernt Alicia Bauer kennen, Tochter eines Schweizers und einer Einheimischen, so wie er auch. Die beiden heiraten, bald schon werden sie Eltern von Carlos. 1948 folgt dann er selbst, René junior; er kommt in La Paz zur Welt, Boliviens Regierungssitz, der höchstgelegene der Welt. Vier Jahre später startet die sozialdemokratische Partei Movimiento Nacionalista Revolucionario, kurz MNR, eine erfolgreiche Revolution, die indigene Bevölkerung Boliviens erhält dabei erstmals das Wahlrecht. Jahrzehnte später sollte es die MNR auch mit René gut meinen. Zu Hause reden sie Spanisch, Deutsch lernt René erst in der Deutschen Schule, die er und die Geschwister besuchen. Aufgrund seines Nachnamens hält man ihn für einen Deutschen, »die Lehrer bildeten zwei Gruppen, eine für jene, die schon fliessend Deutsch konnten, die andere für die anderen, sie lasen die Namen von der Liste runter, und rate mal, in welcher ich landete«. Er findet das gar nicht lustig. Ansonsten erlebt er eine glückliche Kindheit und Schulzeit, eine unbeschwerte, »auch wenn es im Land immer wieder brodelte«. Man kennt sich, man lebt im selben Viertel, es wird zusammen gespielt, man feiert die Geburtstage, vom Kindergarten bis zum Abitur, zwölf Jahre lang. Er liest gerne, er mag Gabriel García Márquez, den realismo mágico, Mutter Alicia meint, sie wolle das nicht lesen, »das sei ja praktisch unsere eigene Familiengeschichte «, jene der Familie Buendía in »Hundert Jahre Einsamkeit«.

René ist ein guter Schüler, vor allem Geschichte und Philosophie interessieren ihn, Jurisprudenz ebenfalls. »Viele Strafrechtler sind Philosophen, und das kommt nicht von ungefähr. Gesetze sind ja meist das Resultat philosophischer Lehren über Ethik und Moral«, erklärt er. Mit achtzehn verlässt er seine Heimat, um in jener seines Grossvaters, in Basel, Rechtswissenschaften zu studieren, und sogleich macht die Sprache wieder zu schaffen, »ich dachte, der Dozent hält die Vorlesung auf Schweizerdeutsch, bis ich allmählich verstand, dass es Hochdeutsch mit Schweizer Akzent war«. Das Studium liegt ihm dennoch, einer seiner Dozenten ist Günter Stratenwerth, »auch er ein Philosoph«, bis heute der in Urteilen des Schweizer Bundesgerichts am meisten Zitierte seines Fachs. Zu dieser Zeit lernt René auch Marianne kennen, seine künftige Ehefrau. Sein Mitbewohner und späterer Trauzeuge habe zu ihr gesagt, wenn sie eine harmonische Ehe mit René führen wolle, dann müsse sie jeweils genau hinschauen, wo er seine Schlüssel liegen lässt. »Ja, die Schlüssel. Die verlege ich heute noch.«

Nach dem Studium in Basel zieht es René in die Hörsäle von Pescara und Strassburg, ehe er 1973, wie einst sein Vater, nach Bolivien heimkehrt und an der grössten Universität des Landes, der San Andrés, doziert. Er tauscht also die Rollen, nun sitzt er nicht mehr in den Bänken, sondern steht vorne, und er macht es gerne, »aber das Salär eines Uniprofessors reichte nirgends hin«, deshalb gründet er im Alter von 27 Jahren seine eigene Anwaltskanzlei. Marianne ist ihm gefolgt, ihr gefällt es in La Paz, sie mag die Leute. Sie lernt Spanisch, »und wie! Sie hatte gar keinen Akzent«, meint René. Die Leute mögen sie. Claudia wird geboren, später kommen Pablo und Noemi dazu. »Das waren schöne Zeiten, die Siebziger« – auf politischer Ebene hingegen ist das Jahrzehnt geprägt von Staatsstreichen, blutigen Putschversuchen und der Militärdiktatur von Hugo Banzer. Erst 1982 sollte diese endgültig abgeschafft werden. Das Land war auf einen Bürgerkrieg zugelaufen.

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