2014: Michelle Reichelt ist 21, studiert Vollzeit an der Pädagogischen Hochschule Thurgau, arbeitet Teilzeit als Hauswartin, ist im Turnverein, hat ein eigenes Auto, geht gerne in den Ausgang und wohnt mit ihrem Freund zusammen. Ein normales Studentinnenleben: Sie ist manchmal gestresst, aber sicher, dass sie auf dem richtigen Weg ist – sie möchte unbedingt Lehrerin werden.

Juli 2019: Michelle Reichelt wird in einem Polizeiwagen ins Untersuchungsgefängnis Zürich gebracht, weil sie sich vor dem Hauptgebäude der Credit Suisse angekettet hat. Zusammen mit anderen Klimaaktivist*innen wollte sie so auf die drohende Klimakrise und die Verantwortung der Banken aufmerksam machen.

Was ist passiert?

Der Zusammenbruch

»Im November 2018 erlebte ich den Moment der kompletten Überforderung«, erinnert sich die mittlerweile 28-Jährige. Zu dieser Zeit hatte sie ein Jahr als Lehrerin vikarisiert und gerade mal ein halbes Jahr eine eigene Klasse betreut. Ihre langjährige Beziehung ging im Herbst 2018 zu Ende, und das schlechte Arbeitsklima machte ihr immer mehr zu schaffen: unbezahlte Überstunden, ungenügende Kommunikation der Schulleitung, zu wenig Zeit für die soziale Betreuung ihrer 4.-Klässler*innen.

Um einen Ausgleich zu schaffen, ging sie am Wochenende feiern, statt sich zu erholen. »Ich bin ins Nachtleben geflüchtet, weil ich tagsüber zu viel leisten musste und zu wenig Zeit für mich selbst hatte«, gesteht Michelle, die am liebsten mit ihrem Vornamen angesprochen wird. Die Konsequenz: Es ging ihr immer schlechter, sie trank und rauchte (zu) viel, verschlief immer öfter. Schliesslich rief sie ihre Hausärztin an und wurde sofort krankgeschrieben. »Sie hat megagut reagiert «, sagt Michelle.

Während die Thurgauerin erzählt, sitzt sie im Wintergarten ihrer WG, in der Hand eine Tasse Kaffee mit einem Schluck selbst gemachter Sojamilch. Mit Freund*innen und Bekannten hat sie im Berner Mittelland ein Haus mit zwei Wohnungen übernommen und in eine grosse Wohngemeinschaft verwandelt. Darin wohnt auch der WG-Hund Lümmel, den Michelle von der vorherigen Besitzerin übernommen hat: »Sie hatte immer weniger Zeit für den Hund, also hat unsere WG ihn aufgenommen.«

Pragmatisch, hilfsbereit, menschen- und tierliebend. Das sind nur vier von vielen Worten, die Michelle Reichelt beschreiben. Reflektiert wäre ein weiteres: Wenn sie erzählt, muss sie kaum pausieren oder umformulieren, denn die Gedanken zu ihren Aussagen hat sie sich schon lange gemacht. Sie redet schnell und bestimmt, was sie sehr präsent wirken lässt.

Heute setzt sich Michelle täglich mit der drohenden Klimakrise auseinander und versucht, mit ihren aktivistischen Tätigkeiten darauf aufmerksam zu machen. Ihr Ziel: Sowohl die Politik wie auch Individuen zum Handeln zu bringen. Vor ihrem Burn-out im November 2018 war sie davon meilenweit entfernt: »Ich war so beschäftigt damit, das zu leisten, was von mir erwartet wurde: Studium, Arbeit, Sport, Beziehung. Da hatte ich null Kapazitäten, um mich auf die Thematik Umwelt einzulassen.«

Als Michelle von ihrer Hausärztin krankgeschrieben wurde, war plötzlich nichts mehr. Sie fuhr nach Hause zu ihren Eltern, um sich auszuruhen: »Ich habe drei Wochen nichts anderes gemacht, als Puzzles zu legen und zu zeichnen.« Anfangs sei ihr das schwergefallen. Sie fühlte sich schlecht, weil sie nichts mehr für die Gesellschaft leistete.

Doch durch die viele freie Zeit konnte sie ausgiebig nachdenken und realisierte: »Es stimmte nicht, dass ich als Individuum versagt hatte, weil ich dem Leistungsdruck nicht standhalten konnte.« Stattdessen sah Michelle darin ein System, in dem alle unter demselben Leistungsdruck leiden und deswegen einander gegenseitig ausbeuten. »Und dann kam der Klimastreik.«

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