»Ich sehe mich nicht als Charakterkopf.« Das schreibt Elia Blülle per Mail, schon bevor wir uns das erste Mal getroffen haben. Er fühle sich geehrt und könne sich ein Interview zwar vorstellen, müsse sich das jedoch noch überlegen.

Wenig später sagte Blülle zu. Vielleicht aus Neugier, vielleicht, weil ihm die Anfrage tatsächlich schmeichelt. Vielleicht aber auch, weil er sich verpflichtet fühlte, einmal selbst Gesprächspartner zu sein. Elia Blülle ist nämlich Journalist. Der 27-Jährige arbeitet seit gut drei Jahren bei der »Republik«. Zudem ist er Moderator für diverse Veranstalter:innen, ist im Vorstand des Reporter:innen-Forum Schweiz und studiert auch noch an der Universität Zürich Politik und Philosophie.

Er ist normalerweise derjenige, der die kritischen und wichtigen Fragen stellt, der gespannt zuhört und das Geschehen aufmerksam verfolgt. Für das Gespräch schlüpfte Blülle für einmal in die Rolle des Befragten. Diese behagt ihm nicht sonderlich: »Ich bin viel lieber der Beobachter. Sehr oft wenn ich irgendwo hingehe, bin ich derjenige, der zuerst 10 Minuten in der Ecke steht und schaut, wer alles im Raum ist.« Deshalb sei der Journalismus auch das Richtige für ihn, fügt er mit einem Lächeln an.

Wir treffen uns an einem kalten grauen Samstagmorgen im März auf einen Spaziergang am Zürichsee. Blülle ist darauf bestens vorbereitet: Er hüllt sich in einen langen grauen Mantel, trägt eine Wollmütze, einen Schal und, zu meinem Erstaunen, eine schwarze Sonnenbrille. Soll sie ihn vor der Sonne oder vor kommenden Fragen schützen?

Mut haben, die richtigen Fragen zu stellen

Der engagierte Journalist liebt Fragen beziehungsweise stellt sie gerne. Am liebsten direkt, hart, frontal, manchmal komplex, immer tiefgründig – Fragen sind sein Schwert, seine Wortwaffe, damit knackt er auch die härtesten Persönlichkeiten. Sein Grundantrieb sei es, Zusammenhänge zu verstehen: »Ich bediene mich gerne komplexer Fragestellungen, um dann in meinem Text anhand der Antworten aufzuzeigen, dass es nie nur eine einzige Antwort auf einen Sachverhalt gibt.« Komplexe Fragestellungen führen zu Ambivalenz, und dies ergäbe immer mehrere Facetten, die man darstellen könne.

Blülle macht einen reflektierten Eindruck. Im Gespräch offenbart sich das in seinen Antworten. Keine Hektik – er sortiert seine Gedanken sorgfältig. Dabei wandert sein Blick oft in die Ferne, als würde er die Antworten am Horizont suchen. Direkten Augenkontakt gibt es selten. Dann – oft eingeleitet mit einem »hey« – folgt seine Antwort. Sie beschränkt sich praktisch nie auf einen einzigen Satz. Immer gibt es differenzierte Standpunkte zu beachten. Diese Geisteshaltung scheint Blülle, der Aargauer, zu leben.

Doch Elia Blülle kann auch anders: Februar 2016, an einer Podiumsdiskussion des Vereins Junge Journalistinnen & Journalisten Schweiz (JJS) wurde über die Zukunft des Journalismus diskutiert. Auf der Bühne sassen einige ältere Medienexperten. Im Publikum junge Nachwuchsjournalisten, mich mit eingeschlossen. Die Stimmung im Saal war bedrückend. Ein Podiumsteilnehmer malte die Zukunft des Journalismus in düstersten Farben. Doch dann meldete sich plötzlich Blülle zu Wort. Er stand auf und schoss eine lange, aber derart scharfzüngig fundierte Bemerkung dazu ab, dass der ganze Saal in tobenden Applaus ausbrach. Mit seinem klaren Bekenntnis zu qualitativem Journalismus wehrte er sich erfolgreich gegen die pessimistische Zukunftsvorstellung der Medienbranche und schaffte es, den jungen Journalisten wieder Mut und Hoffnung zu geben.

Engagement für einen gesunden, neuen Journalismus

Eine erfrischende Rede, die einen optimistischen Standpunkt vertrat und gleichzeitig verdeutlichte, warum es einen Verein wie diesen so dringend benötigt. Nämlich, um sich als angehende Journalist:innen gemeinsam über die Zukunft des Berufsstands sowie neue Arten und Formen von Medieninhalten auszutauschen. Jenes Bedürfnis hatte auch Elia Blülle als Jugendlicher. Zusammen mit anderen hat er 2013 den Verein JJS, den nationalen Verband für Mediennachwuchs, gegründet und übernahm gleich für drei Jahre das Amt des Vereinspräsidenten.

Mittlerweile ist er im Vorstand des Reporter:innen-Forum Schweiz aktiv und übernimmt dort Verantwortung. Das Forum bietet ihm den Raum für fundierte Gespräche und tiefgründige Diskussionen. Elemente, die für sein Selbstverständnis lebenswichtig sind: »Die Auseinandersetzung mit Freunden und neuen Ideen ist für mich immer sehr reizvoll und spannend.« Er habe das gerade wieder während dieser Pandemiezeit bemerkt: »Ich brauche Leute um mich herum, die Impulse geben, damit ich klar denken kann.«

Unterschiedliche Standpunkte und Anschauungen im Gespräch erkennen und zulassen, das ist für ihn wichtig: »Wir Journalisten neigen sehr oft dazu, abschliessend zu behaupten, so oder so ist es wirklich. Doch das mündige Publikum kauft das heutzutage nicht mehr ab.« Was muss guter Journalismus Ihrer Meinung nach denn leisten? Ich habe lange gemeint, die Arbeit eines Journalisten sei es, Komplexität zu reduzieren. Doch je länger ich im Journalismus bin, desto mehr bin ich der Ansicht, dass es eigentlich weniger ein Reduzieren von Komplexität ist, sondern ein Darstellen von Komplexität. Können Sie ein Beispiel dafür geben? Es ist, als würdest du vor einem Wimmelbild mit ganz vielen Zeichen und Figuren stehen.

Wenn man es zum ersten Mal sieht, dann ist man zuerst einfach überfordert. Was ich als Journalist machen kann, ist eine Anleitung zu geben, wie das Bild zu verstehen ist, sodass die Essenz des Bildes verstanden werden kann. Diese Art von Journalismus praktiziert er seit rund drei Jahren auch für das Schweizer Onlinemagazin »Republik«. Die »Republik« ist ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Sie versteht sich selbst als eine Rebellion gegen die Medienkonzerne und als Gewinn für die Medienvielfalt. Anders als viele Medientitel in der Schweiz ist das Magazin werbefrei, unabhängig und wird direkt von seinen Leser:innen finanziert. Das Ziel: begeisternden Journalismus zu liefern. Das will auch Blülle. »Für mich war es zwingend für ein seriöses Medium, wie die ›Republik‹, zu arbeiten, wo das Publikum wie auch die Vorgesetzten es in Ordnung finden, wenn man mal eine Frage nicht mit einer einfachen Antwort beantworten kann.« Zuerst war Blülle rund ein Jahr als Trainee angestellt. Danach stieg er als fester Bestandteil der »Republik«-Redaktion ein. Seit April 2019 arbeitet er nun als Reporter mit einem 80 %- Pensum. Seine Kerngebiete umfassen die Schweizer Politik, Grundrechte und soziale Ungleichheit sowie die Klimakrise. Bei der »Republik« ist Blülle glücklich. Er weiss, dass er viele Freiheiten bekommt und auch genügend Zeit, um aufwändige Recherchen betreiben zu können. In dieser Redaktion könne er sich weiterentwickeln und ausprobieren. Es gäbe deshalb für ihn auch keine Gründe, Pläne für die Zukunft zu schmieden. Allerdings: »Manchmal fehlt mir ein wenig die Perspektive. Ich könnte noch das Medium wechseln, aber um ehrlich zu sein, gibt es in der Schweiz nicht mehr viele journalistische Stationen, die mich reizen würden.«

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