Der Schriftsteller Arno Camenisch schreibt Bücher, die die Kassen klingeln und die Sätze klingen lassen. Weil viel zwischen den Zeilen fliesst. Der Vorderrhein zum Beispiel. Und manchmal auch Elektrizität.

»Wenn mich etwas hellhörig macht. Das kann ein Satz sein, irgendwas. Es gibt die Szene in ›Billy Elliot‹, kennst du den Film? Als er schon zur Tür gehen will und sie ihn etwas fragen«, sagt Arno Camenisch, 43 Jahre alt.

Die Szene in »Billy Elliot« geht so: »Noch eine letzte Frage. Billy, sag mir bitte: Wie fühlst du dich, wenn du tanzt?«, fragt eine von der Jury. Billy dreht sich um, sieht ihr erst in die Augen und dann an ihr vorbei. Nach links, zur Wand. Er denkt nach, Falten graben sich in seine Stirn. Hinten steht der Vater, den Türknopf in der Hand und ein bisschen auch das Leben seines Sohnes. Er ist ungeduldig und wahrscheinlich noch immer ein wenig verärgert. Billy sollte Boxer werden und nicht Balletttänzer.

Billy blickt zurück zur Jury und sagt: »Ich weiss nicht.« Die Alte am hölzernen Podium seufzt. Doch Billy holt noch einmal Luft und spricht weiter. »Irgendwie gut.« Die Alte hebt ihren Blick. »Es ist schwierig, aber wenn ich angefangen habe, dann vergesse ich alles.« Nun leuchten Billys Augen. »Ich verschwinde irgendwie.« Er hält kurz inne. »Ich verschwinde irgendwie. Als würde sich mein Körper verwandeln. Als hätte ich ein Feuer in mir. Ich bin einfach da, fliege.« Er sieht nach oben. »Wie ein Vogel. Wie Elektrizität. Ja, wie Elektrizität.«

»Das ist für mich das Schreiben. Der Zauber«, sagt Camenisch. Er bezeichnet sich als Ästheten, spricht von Zauber. Die ganz grossen Worte, von A bis Z. Camenisch spielt auf der Klaviatur der Bedeutsamkeit. Ja, vielleicht spielt Camenisch mehr, als dass er spricht.

Der Ton von Tavanasa

Ein Journalist, der mit mir befreundet ist, Camenisch einmal interviewt hatte und auch schon an Lesungen von ihm war, sagte mir: »Gewissermassen spielt er ja sich selbst.« Als ich mich von Camenisch verabschiede, schreibe ich in mein Notizbuch: »Der glaubt seinen eigenen Worten nicht. So spricht doch keiner!«

Camenisch, der mir das Du anbietet, spricht eigenartig. Als wir uns setzen, kündigt er an, Schriftdeutsch zu sprechen. »Mir ist wichtig, wie ich etwas formuliere.« Auch in der Hochsprache rollt er das R, wie das Bündner eben tun. »Ich bin ein Visionär«, sagt er irgendwann. Die ganz grossen Worte. Am allerkleinsten Ort.

Camenisch ist in Tavanasa aufgewachsen. Viele seiner Bücher spielen dort, so auch sein neustes, »Der Schatten über dem Dorf«. Nur 25 Häuser stehen in Tavanasa. Als ich am Bahnhof aussteige, fühle ich mich, als betrete ich ein Filmset.

Wenn sie nach der Mess am Sonntag also nach Hause gingen, blieben sie auf der Brücke stehen und schauten runter in den Rhein, das war ein Ritual, und gingen dann weiter über die Strasse an der Zapfsäule und am Kiosk vorbei, über die kleine Brücke gleich beim Kiosk, die über einen Bach führte, und über die Dorfstrasse raus an der Crusch Alva vorbei, die Beiz, wo die Silvana früher wohnte, weiter die Strasse raus bis zur kleinen Bahnhofstrasse, die links zum Bahnhof abbog. Da im Haus mit der Eisenwarenhandlung, da wohnten sie.

Der Kiosk, wo das Buch »Goldene Jahre« spielt, ist inzwischen einem Coiffeursalon gewichen. Es gibt noch einen zweiten Coiffeur in Tavanasa, dafür weder ein Lebensmittelgeschäft noch eine Apotheke. Weiter oben, wo Brigels beginnt, versorgt ein Volg die Bevölkerung. Für den Grosseinkauf gehen die Leute in die Migros nach Ilanz, dem nächsten Städtchen. Entfernt höre ich die Autos der Umfahrungsstrasse und Wasser. Den Vorderrhein, der durch die Surselva fliesst, und den Schnee, der auf den Dächern schmilzt und in die Regenrinnen oder auf Plastikplanen tropft. Zweimal pro Stunde hält ein Zug. Er ist auf dem Weg nach Chur oder Disentis. In die eine oder andere Richtung. In Tavanasa steigt kaum jemand ein und kaum jemand aus. Etwa 430 Menschen sollen in dieser Gegend wohnen. An diesem Samstagnachmittag sehe ich aber fast niemanden. Ich klopfe beim Restaurant, weil im Innern Licht brennt. Eine Deutsche macht auf. Ich frage nach Camenisch. »Das ist doch der, der die Bücher schreibt«, sagt sie. Ich will wissen, ob sie ihn persönlich kenne. »Nein«, sagt sie und schliesst die Tür.

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